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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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wir heute einen Tag, an dem die Köpfe sich schütteln, was ich allerdings nicht als Vorzeichen deuten möchte für rollende Köpfe. Valentin, was schüttelt dich?«
    »Wir sollten den Dingen nicht vorgreifen. Die Sozialdemokraten stecken in einem tiefgreifenden Läuterungsprozess …«
    »Valentin«, sagte die Kanzlerin jetzt streng, »ich sage dazu: Die SPD häutet sich, was Schuppen gibt und einigermassen unappetitlich ist. Allein schon, wenn man sich einmal diesen Pils ansieht. Mal sehen, was übrig bleibt.«
    Sie schaute Hendricks an, aber der schwieg. So wie Männer mit grossen Plänen im Hinterkopf zu schweigen pflegen. Also sagte sie: »Der Platz bleibt bespielbar, davon bin ich überzeugt. Dann, um im Jargon zu bleiben, pfeife ich diesen Spieltag jetzt an. Üben wir Druck aus, oder wie es beim FC Bayern so schön heisst: Dominieren wir unseren Gegner. Frohes Schaffen.«

    Wo steckte Kranich?
    Er sass an ihrem Schreibtisch.
    »Herr Kranich, das geht jetzt aber zu weit, es sei denn, Ihnen ist plötzlich übel geworden, schwarz vor den Augen, da hätten Sie natürlich das Recht, auf meinem Stuhl zusammenzubrechen. Aber, Kranich, Sie sitzen kerzengerade da und keineswegs mit bleichem Gesicht. Also was soll das?«
    Er wechselte sofort den Platz und setzte sich dahin, wo er hingehörte: etwas versetzt, ihr schräg gegenüber. Sie hasste es, Gespräche zu führen mit Menschen, die ihr direkt gegenübersassen. Sie wollte ihr Gegenüber auch ohne direkten Augenkontakt beobachten können, Reaktionen testen, ohne dass es dabei zu Verhaltensstörungen kam. Face to face, das machte die meisten Leute sperrig. Und einen wie Kranich sowieso.
    »Kranich, soll ich die Koalition platzen lassen?«
    »Nein.«
    »Und haben Sie für dieses dezidierte Nein auch eine Begründung?«
    »Nein.«
    »Dann allerdings scheinen Sie sich ausnahmsweise einmal sehr sicher zu sein, Herr Kranich. Und mundfaul. Diese Schweizer. Wollen Sie meinen Terminkalender sehen?«
    Er kannte ihren Terminkalender und sagte: »Sie haben verdammt viele Termine heute.«
    »Alle abgesagt, Kranich, alle. Ich muss nachdenken. Und wenn Sie mich dabei nicht stören, habe ich nichts dagegen, wenn Sie mir eine Weile Gesellschaft leisten.«
    Kranich respektierte sie. Die Unterstellung, sie sei rückgratlos, war ehrenrührig. Sie beobachtete, sie analysierte und hatte es mit tausend Dingen zu tun, für die sie ein Zusammenspiel suchte, das in ihrem Interesse war. Und der entscheidende Faktor dabei war letztlich immer der Zeitpunkt. Der richtige Zeitpunkt. DieKanzlerin hatte das absolute Gespür für den richtigen Augenblick. Sie liebte Charlie Chaplin und teilte dessen Erkenntnis, dass Humor nur eine Frage des Timings ist und jede Pointe nur eine Chance hat, zeitlich gesehen. Und die Kanzlerin war eine Politikerin, die es eindrucksvoll verstand, lange Geschichten zu machen, bis sie ihre Pointe setzte, was selbst dann funktionierte, wenn sie sich dabei verhaspelte. Allein der Überraschungseffekt zählte, darauf vertraute sie, und das machte sie so unberechenbar. Als Nazirichter Filbinger starb, mit dreiundneunzig, dieser furchtbare Greis, da organisierte Baden-Württemberg einen Staatsakt, und ein Provinzredenschreiber liess seinen Ministerpräsidenten sagen: »Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil. Er war ein Gegner des Naziregimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig entziehen wie Millionen andere.« Es war unsäglich, es war eine Lüge, und die Medien hauten auf die Pauke. Aber die Kanzlerin schwieg, zwei Tage lang schwieg sie. Und sagte dann, eher nebenbei, am Rande einer Veranstaltung, dass sie bei dieser Trauerrede »eine Differenzierung im Hinblick auf die Gefühle der Opfer« vermisst habe. Der Ministerpräsident differenzierte, dann entschuldigte er sich, und es lag kein Held mehr im Grab.
    »Frau Kanzlerin, als der FC Bayern in St. Petersburg 0 : 4 verloren hatte, da sangen die Fans im Stadion russische Kriegslieder. Siegeslieder.«
    »Herr Kranich, was wollen Sie mir damit sagen?«
    »Dass Deutschland dieses Kapitel geschrieben hat und es bewältigen muss, aber andere Völker darüber entscheiden, wann der Zeitpunkt gekommen ist. Vergessen können nur die anderen. Die Geschichte mit Filbinger – sie ging mir eben durch den Kopf. Das haben Sie prima gemacht.«
    »Wie gesagt, Herr Kranich, Sie sind gern dazu eingeladen mitzudenken, wenn Sie mich dabei nicht stören. Wobei so eine kleine Schmeichelei ganz

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