Die Kanzlerin - Roman
Millionenstadt zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. Da, wo jemand fragte: »Haben Sie in letzter Zeit etwas gewechselt?« Wer antwortete: »Ja, ich habe zu 94,3 rs2 gewechselt«, hatte fast schon gewonnen. Aber nur, wenn der Wechsler oder die Wechslerin auch die »Wechselkarte« vorzeigte, die man sich aus dem Netz herunterladen und ausdrucken konnte. Dann und nur dann gab es die Kohle. Sein Radiosender bezahlte also Menschen dafür, dasssie diesen Sender hörten. Es schien die Bosse nicht zu stören, dass sie ihre Hörer kauften. Haacke & Co war erfolgreich und prahlte mit prominenten Wechslern: Dieter Bohlen, Allzweckkomiker Atze Schröder, Sarah Connor. Aber der Musikmix des Senders war erfolgreich, und Axel Nickel hätte vermutlich auch gewechselt. Die Spasstelefonate von Hausmeister Bicke. Top. »Icke Bicke, und icke sage Ihnen, Ihre Frau geht fremd, und icke bin das.« Oder die Comedyshow Küss mich! Bei Kanzlers zu Hause. Die Stimmenimitatorin war besser als das Original, ebenso plapperig und schräg wie die Kanzlerin, leicht lispelnd und mit dem Handicap, dass sie Politik machen musste und keine Zeit zum Kochen hatte. In der letzten Folge füllte sie Lottoscheine aus, um ihrem Schicksal zu entkommen.
Er aber, der Volontär Axel Nickel, ahnte das Schicksal, das sie ereilen würde, weil er aufmerksam gewesen war. Weil er vor Monaten das Angebot eines guten Freundes, den er nur als Mozart kannte, doch einmal auf der Seite Cookie & Co reinzuschauen, angenommen hatte. Und sich dort ebenso unauffällig wie bereitwillig an Gesprächen einer Gruppe beteiligt hatte, die völlig abgedrehte Sprüche klopfte. Durchgeknallte allesamt, hatte er gedacht. Aber so war es nicht. Plötzlich hatte Axel Nickel gespürt, dass er mittendrin war in einer Verschwörung, deren konkretes Ziel er nicht kannte. Aber dass er, das kleine 94,3-rs2-Rädchen, an einem ganz grossen Rad mitdrehte, das wurde ihm immer klarer.
Axel Nickel war erregt, wenn er an den Stick in seiner Hosentasche dachte. Sein Karriereschlüssel. Und weil er als Volontär im Studio keinen eigenen Arbeitsplatz hatte, gab es dort auch keine Festplatte, auf der abgespeichert war, was er Tag und Nacht bei sich trug.
Axel Nickel hatte sich zwar überlegt, seine Chefs über dieses Date zu informieren, den Gedanken aber wieder verworfen. Er schaute auf die Uhr. In zwanzig Minuten musste er im Park sein.Er kannte ihn. Ein Schwulentreffpunkt, mitten in Mitte, in einer Hochhaussiedlung. Joker hatte sich bei ihm gemeldet. »Habe Infos für dich zu Cookie & Co. Könnte interessant sein für dich. 23 Uhr, beim Sandkasten.« – »Worum geht’s?«, hatte Nickel gefragt, aber keine Antwort erhalten. Und jetzt war er unterwegs, rauchte Kette und war so nervös, dass er ausser Atem war, obwohl er bewusst langsam ging. Er wollte nicht zu früh da sein. Zudem hatte er ein mulmiges Gefühl, aus zwei Gründen. Zum einen schien dieser Joker ein Cookie-Mitglied zu sein, das sich von anderen unterschied, auch wenn Nickel nicht wusste, worin. Jedenfalls bot er Infos an, und zwar ihm, dem kleinen Lokaljournalisten. Warum? In einer Viertelstunde würde er es erfahren. Im Übrigen war er jung, kräftig und trainiert, und in seiner Jackentasche steckte ein Messer. Zum anderen musste sich Axel Nickel eingestehen, dass er nicht nur wegen der Infos in den Park ging. »Erkennungszeichen«, hatte Joker geschrieben, »zieh dir ein rosarotes T-Shirt an, schwarze Jeans, schwarze Lederjacke, darauf steh ich.«
Seine Chefs pflegten sich anders zu kleiden und sich bei Anlässen zu informieren, zu denen Nickel nicht eingeladen wurde: Empfänge und Apéros am Rande gesellschaftlicher Anlässe, Gedenkfeiern, Berlin-Marathon, Empfänge im Bundestag und Bundesrat – es gab viele Zirkel und viele, die in vielen Zirkeln zirkelten. Netzwerke, zu denen jetzt auch sein Radiosender gehörte, und ein Chefredakteur, der einmal sagte: »Wer in der Politik eine Botschaft verkünden will, braucht ein Megaphon. Und wer – wie wir – ein Megaphon hat, braucht eine Botschaft.« Stand in einem Rundschreiben, in dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu aufgefordert wurden, »eine kritische Distanz zu wahren zu Mandatsträgern und allen anderen Personen des öffentlichen Lebens«, weil das die Voraussetzung sei für die Ausübung »unseres stolzen Berufes«. Und weiter: »Trotzdem sind wir natürlich auf gute Kontakte angewiesen und haben im Rahmen unserer Berufsausübungauch persönliche
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