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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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schwamm noch die alte Zitronenscheibe. Die Wirtin war breit wie ein Schiff. Sie lächelte aber wie ein gutes Kind, vertraulich und mütterlich. Als ich mich anschickte, die alte, häßliche Zitronenscheibe aus dem Glas zu entfernen, griff sie mit zwei gütigen, dicken Fingern hinein und holte die Zitrone heraus. Ich dankte ihr mit einem Blick.
    Ich trank den heißen Tee langsam. Der Leutnant Andrej Maximowitsch kam nicht zurück. Es wurde immer später, und ich mußte zu meinen Leuten zurück ins Lager. Ich ging hinaus vor die Balkontür und rief ein paarmal seinen Namen. Er antwortete mir endlich. Es war eine eisige Nacht, so kalt, daß ich zuerst glaubte, selbst ein Ruf müßte, kaum ausgestoßen, schon erfrieren und niemals den Gerufenen erreichen. Ich blickte zum Himmel empor. Die silbernen Sterne schienen nicht von ihm selbst geboren, sondern in seine Gewölbe eingeschlagen worden zu sein, glänzende Nägel. Ein wuchtiger Wind vom Osten, der Tyrann unter den Winden Sibiriens, nahm meiner Kehle den Atem, meinem Herzen die Kraft zu schlagen, meinen Augen die Fähigkeit zu sehen. Die Antwort des Leutnants auf meinen Ruf, vom bösen Wind mir dennoch entgegengetragen, erschien mir wie eine tröstliche Botschaft eines Menschen, nach langer Zeit zum erstenmal vernommen, obwohl ich kaum ein paar Minuten draußen in der menschenfeindlichen Nacht gewartet hatte. Aber wie wenig tröstlich war diese menschliche Botschaft.
    Ich ging in die Baracke zurück. Eine einzige Lampe brannte noch. Sie erhellte den Raum nicht, sie machte seine Finsternis nur noch dichter. Sie war gleichsam der leuchtende, winzige Kern einer schweren, kreisrunden Finsternis. Ich setzte mich neben die Lampe hin. Plötzlich schreckten mich ein paar Schüsse auf. Ich lief hinaus. Die Schüsse waren noch nicht verhallt. Sie schienen noch immer unter dem eisigen, gewaltigen Himmel dahinzurollen. Ich lauschte. Nichts regte sich mehr, außer dem ständigen Eiswind. Ich konnte es nicht mehr ertragen und kehrte in die Baracke zurück.
    Eine Weile später kam der Leutnant, bleich, trotz dem Winde die Mütze in der Hand, die Pistole ragte aus dem halboffenen Etui. Er setzte sich sofort, atmete schwer, knöpfte den Blusenkragen auf und sah mich mit starren Augen an, als kenne er mich nicht, als hätte er mich vergessen und als bemühte er sich angestrengt, mich zu agnoszieren. Die Karten wischte er vom Tisch mit dem Ärmel. Er trank einen tüchtigen Schluck aus der Flasche, senkte den Kopf und sagte auf einmal ganz schnell: »Ich habe nur einen getroffen.« – »Sie haben also schlecht gezielt«, sagte ich. Aber ich hatte es anders verstanden. »Ich habe schlecht gezielt. Ich ließ sie in einer Reihe antreten. Ich wollte sie nur erschrecken. Ich schoß in die Luft. Beim letzten Schuß war's, als drückte jemand meinen Arm nieder. Es geschah schnell, es ging los, ich weiß nicht wie. Der Mann ist hin. Die Leute verstehen mich nicht mehr.«
    Man begrub den Mann noch in der gleichen Nacht. Der Leutnant ließ eine Ehrensalve abschießen. Seit dieser Stunde lachte er nicht mehr. Er sann über etwas nach, das ihn unaufhörlich zu beschäftigen schien. Wir legten noch etwa zehn Werst unter seinem Kommando zurück. Zwei Tage, bevor ein neuer Transportkommandant uns übernehmen sollte, ließ er mich zu sich in den Schlitten steigen und sagte: »Dieser Schlitten gehört Ihnen und Ihren zwei Freunden. Der Jude ist Kutscher. Er wird sich auskennen. Hier ist meine Karte. Ich habe den Punkt angekreuzt, an dem Sie aussteigen. Sie werden dort erwartet. Es ist mein Freund. Zuverlässig. Niemand wird euch suchen. Ich werde euch alle drei als Geflüchtete ausgeben. Ich werde euch hinrichten und begraben.« Er drückte mir die Hand und stieg aus.
    In der Nacht fuhren wir los. Der Weg dauerte ein paar Stunden. Der Mann wartete. Wir fühlten sofort, daß wir bei ihm geborgen waren. Wir begannen ein neues Leben.

XXII
    Unser Gastgeber gehörte zu den alteingesessenen sibirischen Polen. Pelzhändler war er von Beruf. Er lebte allein, mit einem Hund unbestimmter Rasse, mit zwei Jagdgewehren, einer Anzahl selbstgeschnitzter Pfeifen in zwei geräumigen, mit kümmerlichen Pelzfellen vollgelagerten Zimmern. Er hieß Baranovitsch, Jan mit Vornamen. Er sprach äußerst selten. Ein schwarzer Vollbart verpflichtete ihn zur Schweigsamkeit. Er ließ uns allerhand Arbeiten verrichten, den Zaun reparieren, Holz spalten, die Schlittenkufen einfetten, die Felle sondieren. Wir lernten dort etwas

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