Die Kapuzinergruft
flüchtete mich geradezu in sie. Ich brauchte so nicht mehr an meine Mutter, an meine Frau, unseren toten Diener zu denken. Mein Zug hielt fast jede halbe Stunde an irgendwelchen winzigen, unbedeutenden Stationen. Wir fuhren, ein Oberleutnant und ich, in einem engen Abteil, einer Zündholzschachtel sozusagen, etwa achtzehn Stunden, bis wir Kamionka erreichten. Von hier ab waren die ordentlichen Bahngeleise zerstört. Nur eine provisorische, schmalspurige Bahn mit drei ungedeckten, winzigen Lastwaggönchen führte zum nächsten Feldkommandoposten, der die augenblickliche Stellung der einzelnen Regimenter, auch nur unverbindlich, den »Einzelreisenden« anzugeben vermochte. Das Bähnchen rollte langsam dahin, der Lokomotivführer läutete unaufhörlich, denn Scharen von Verwundeten, zu Fuß und auf Bauernfuhrwerken, kamen uns auf dem schmalen Weg entgegen. Ich bin – wie ich damals zum erstenmal erfuhr – ziemlich unempfindlich gegen die sogenannten großen Schrecken. So empfand ich zum Beispiel den Anblick der Verwundeten, die auf einer Tragbahre lagen, wahrscheinlich, weil ihnen Beine oder Füße abgeschossen waren, weniger fürchterlich als die allein, ungestützt dahinwankenden Soldaten, die nur einen leichten Streifschuß hatten und durch deren schneeweißen Verband unaufhörlich neues Blut sickerte. Und bei alledem, zu beiden Seiten der schmalspurigen Bahn, auf den weiten, schon herbstfahlen Wiesen, zirpten die verspäteten Grillen, weil sie ein trügerisch warmer Septemberabend verführt hatte zu glauben, es sei immer noch oder schon aufs neue Sommer.
Beim Feldkommandoposten traf ich zufällig den Herrn Feldkuraten von den Fünfunddreißigern. Er war ein feister, selbstzufriedener Mann Gottes, in einem engen, prallen, glänzenden Priesterrock. Er hatte sich auf dem Rückzug verloren, mitsamt seinem Diener, seinem Kutscher, seinem Pferd und dem zeltüberspannten Trainwagen, wo er Altar und Meßgeräte, aber auch eine Anzahl Geflügel, Schnapsflaschen, Heu für das Pferd und überhaupt requiriertes Bauerngut verbarg. Er begrüßte mich wie einen langentbehrten Freund. Er schien sich vor neuen Irrfahrten zu fürchten, er konnte sich auch nicht entschließen, sein Geflügel dem Feldkommandoposten zu opfern, wo man sich bereits seit zehn Tagen lediglich von Konserven nährte und von Kartoffeln. Man liebte hier den Feldkuraten nicht sonderlich. Aber er weigerte sich, aufs Geratewohl oder nur auf ein Ungefähr hin loszuziehen, dieweil ich, eingedenk meines Vetters Joseph Branco und des Fiakers Manes Reisiger, das Ungefähr dem Warten vorzog. Unsere Fünfunddreißiger, so lautete die vage Auskunft, sollten drei Kilometer nördlich von Brzezany stehen. Und also machte ich mich mit dem Feldkuraten, seinem Wagen, seinem Geflügel auf den Weg, ohne Landkarte, lediglich mit einer handgezeichneten Skizze versehen.
Wir fanden schließlich die Fünfunddreißiger, allerdings nicht nördlich von Brzezany, sondern erst in dem Flecken Strumilce. Ich meldete mich beim Obersten. Meine Ernennung zum Leutnant war bereits beim Regimentsadjutanten eingelaufen. Ich verlangte, meine Freunde zu sehen. Sie kamen. Ich bat, man möchte sie meinem Zug zuteilen. Wie kamen sie! Ich erwartete sie in der Kanzlei des Rechnungsunteroffiziers Cenower, aber es war ihnen nicht gesagt worden, daß ich es sei, der sie hatte kommen lassen. Im ersten Augenblick erkannten sie mich gar nicht. Aber im nächsten schon fiel mir Manes Reisiger um den Hals, uneingedenk aller militärischen Vorschriften, indes mein Vetter Joseph Branco noch immer dastand, in Habt-acht erstarrt, aus Verwunderung und Disziplin. Er war ein Slowene eben. Manes Reisiger aber war ein jüdischer Fiaker aus dem Osten, unbekümmert und kein Dienstreglement-Gläubiger. Sein Bart bestand aus lauter wilden, harten Knäueln, der Mann sah nicht uniformiert aus, sondern verkleidet. Ich küßte eines seiner Bartknäuel und machte mich daran, auch Joseph Branco zu umarmen. Ich selbst, auch ich, vergaß das Militär. Ich dachte nur noch an den Krieg, und ich rief vielleicht zehnmal hintereinander: »Ihr lebt, ihr lebt! ...« Und Joseph Branco bemerkte sofort meinen Ehering und wies stumm auf meinen Finger. »Ja«, sagte ich, »ich habe geheiratet.« Ich fühlte, ich sah, daß sie mehr von meiner Heirat und von meiner Frau wissen wollten, ich ging mit ihnen hinaus, auf den winzigen, kreisrunden Ring um die Kirche von Strumilce. Ich sprach aber gar nicht von Elisabeth, bis es mir plötzlich
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