Die Kapuzinergruft
fragte nichts. Er nahm Tee und Machorka und fragte nichts. Er trennte uns. Ich kam in die Offiziersbaracke. Manes und Joseph Branco sah ich zweimal in der Woche, wenn wir Exerzierübungen machten. Sie sahen einander nicht an. Wenn ich manchmal an einen herantrat, um ihm etwas von meinem spärlichen Tabak zu geben, sagte mir jeder von ihnen, dienstlich und auf deutsch: »Danke gehorsamst, Herr Leutnant.« – »Geht's?« – »Jawohl!« – Eines Tages fehlten sie beide, als man im Hof die Namen verlas. In der Baracke, auf meiner Pritsche, fand ich abends einen Zettel, mit einer Stecknadel auf mein Kissen geheftet. Drauf stand, in der Schrift Joseph Brancos: »Wir sind fort. Wir fahren nach Wien.«
XXIII
Ich traf sie wirklich in Wien, erst vier Jahre später.
Am Weihnachtsabend des Jahres 1918 kehrte ich heim. Elf zeigte die Uhr am Westbahnhof. Durch die Mariahilfer Straße ging ich. Ein körniger Regen, mißratener Schnee und kümmerlicher Bruder des Hagels, fiel in schrägen Strichen vom mißgünstigen Himmel. Meine Kappe war nackt, man hatte ihr die Rosette abgerissen. Mein Kragen war nackt, man hatte ihm die Sterne abgerissen. Ich selbst war nackt. Die Steine waren nackt, die Mauern und die Dächer. Nackt waren die spärlichen Laternen. Der körnige Regen prasselte gegen ihr mattes Glas, als würfe der Himmel sandige Kiesel gegen arme, große Glasmurmeln. Die Mäntel der Wachtposten vor den öffentlichen Gebäuden wehten, und die Schöße blähten sich trotz der Nässe. Die aufgepflanzten Bajonette erschienen gar nicht echt, die Gewehre hingen halb schief an den Schultern der Leute. Es war, als wollten sich die Gewehre schlafen legen, müde wie wir, von vier Jahren Schießen. Ich war keineswegs erstaunt, daß mich die Leute nicht grüßten, meine nackte Kappe, mein nackter Blusenkragen verpflichteten niemanden. Ich rebellierte nicht. Es war nur jämmerlich. Es war das Ende. Ich dachte an den alten Traum meines Vaters, den von einer dreifältigen Monarchie, und daß er mich dazu bestimmt hatte, einmal seinen Traum wirklich zu machen. Mein Vater lag begraben auf dem Hietzinger Friedhof, und der Kaiser Franz Joseph, dessen treuer Deserteur er gewesen war, in der Kapuzinergruft. Ich war der Erbe, und der körnige Regen fiel über mich, und ich wanderte dem Hause meines Vaters und meiner Mutter zu. Ich machte einen Umweg. Ich ging an der Kapuzinergruft vorbei. Auch vor ihr ging ein Wachtposten auf und ab. Was hatte er noch zu bewachen? die Sarkophage? das Andenken? die Geschichte? Ich, ein Erbe, ich blieb eine Weile vor der Kirche stehen. Der Posten kümmerte sich nicht um mich. Ich zog die Kappe. Dann ging ich weiter dem väterlichen Hause zu, von einem Haus zum andern. Lebte meine Mutter noch? Ich hatte ihr zweimal von unterwegs meine Ankunft angezeigt.
Ich ging schneller. Lebte meine Mutter noch? Ich stand vor unserm Haus. Ich läutete. Es dauerte lange. Unsere alte Portiersfrau öffnete das Tor. »Frau Fanny!« rief ich. Sie erkannte mich sofort an der Stimme. Die Kerze flackerte, die Hand zitterte. »Man erwartet Sie, wir erwarten Sie, junger Herr. Nächtelang schlafen wir beide nicht, die gnädige Frau oben auch nicht.« – Sie war in der Tat so angezogen, wie ich sie früher nur an Sonntagvormittagen gesehen hatte, niemals abends nach der Sperrstunde. Ich nahm zwei Stufen auf einmal.
Meine Mutter stand neben ihrem alten Lehnstuhl, in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid, die silbernen Haare hoch aus der Stirne gekämmt. Rückwärts über den rund gelegten zwei Zöpfen ragte der breite Bogenrand des Kammes, grau wie das Haar. Den Kragen und die engen Ärmel umrandeten die wohlvertrauten, weißen, schmalen Säume. Den alten Stock mit der Silberkrücke hob sie empor, eine Beschwörung, gegen den Himmel hob sie ihn hoch, gleichsam, als wäre ihr Arm nicht lang genug für einen so gewaltigen Dank. Sie rührte sich nicht, sie erwartete mich, und ihr Stillstehen schien mir wie ein Schreiten. Sie beugte sich über mich. Sie küßte mich nicht einmal auf die Stirn. Sie stützte mit zwei Fingern mein Kinn hoch, so daß ich das Gesicht hob, ich sah zum erstenmal, daß sie so viel größer war als ich. Sie blickte mich lange an. Dann geschah etwas Unwahrscheinliches, ja etwas Erschreckendes, mir Unfaßbares, fast Überirdisches: Meine Mutter hob meine Hand, bückte sich ein wenig und küßte sie zweimal. Ich zog schnell und verlegen den Mantel aus. »Den Rock auch«, sagte sie, »er ist ja naß!« Ich legte auch
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