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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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die Küche. Unvermutet schnell begann er zu sprechen: »Sie haben sich also doch geschlagen«, sagte er. »Ich habe die Wunden gesehen und das Schweigen begriffen. Ich kann sie nicht mehr behalten. In diesem Hause muß Friede sein. Ich habe schon ein paarmal Gäste gehabt. Sie blieben alle genauso lang, wie sie Frieden hielten. Ich habe nie einen gefragt, wer er sei, woher er komme. Es konnte auch ein Mörder sein. Mir war er ein Gast. Ich handle nach dem Sprichwort: Gast im Hause, Gott im Hause. Der Leutnant, der dich hergeschickt hat, kennt mich schon lange. Auch ihn habe ich einmal hinausweisen müssen wegen einer Schlägerei. Er nimmt's mir nicht übel. Dich möchte ich behalten. Du hast dich gewiß nicht geschlagen. Aber die andern würden dich anzeigen. Du mußt also mit.« – Er schwieg. Ich warf die brennenden Späne in die Ofenröhre des Samowars und legte einiges lockere Zeitungspapier darüber, damit die Späne nicht erloschen. Als der Samowar zu singen anfing, begann Baranovitsch wieder: »Fliehen könnt ihr nicht. In dieser Gegend, bei dieser Jahreszeit, bleibt kein Mensch lebendig, der hier herumirrt. Also bleibt euch nichts anderes übrig, als nach Wiatka zu fahren. Nach Wiatka«, wiederholte er, zögerte und setzte hinzu: »ins Lager. Vielleicht wird man euch bestrafen, schwer, leicht oder gar nicht. Die Unordnung dort ist groß, der Zar ist weit, seine Gesetze sind verworren. Meldet euch beim Wachtmeister Kumin. Er ist mächtiger als der Lagerkommandant. Ich gebe euch Tee und Machorka mit, die gibst du ihm. Merk's dir; Kumin.« – Das Wasser siedete, ich schüttete Tee in den Tschajnik, goß Wasser drauf und stellte den Tschajnik auf die Samowarröhre. – Zum letztenmal! dachte ich. Ich hatte keine Angst vor dem Lager. Es war Krieg, alle Gefangenen mußten ins Lager. Aber ich wußte nun, daß Baranovitsch ein Vater war, sein Haus meine Heimat war, sein Brot das Brot meiner Heimat. Gestern waren mir meine besten Freunde verlorengegangen. Heute verlor ich eine Heimat. Zum zweitenmal verlor ich eine Heimat. Damals wußte ich noch nicht, daß ich die Heimat nicht zum letztenmal verloren hatte. Unsereins ist gezeichnet.
    Als ich mit dem Tee in die Stube kam, saßen Reisiger und Joseph Branco schon zu beiden Seiten des Tisches. Baranovitsch lehnte an der Tür, die zur Nebenstube führte. Er setzte sich nicht, auch als ich sein Glas hinstellte. Ich schnitt selbst das Brot und verteilte es. Er trat an den Tisch, trank im Stehen seinen Tee, aß im Stehen sein Brot. Dann sagte er: »Meine Freunde, ich habe eurem Leutnant gesagt, weshalb ich euch nicht mehr behalten darf. Nehmt euren Schlitten, nehmt ein paar Felle unter die Röcke, es wird euch wärmen. Ich begleite euch bis zu der Stelle, wo ich euch abgeholt habe.«
    Manes Reisiger ging hinaus, ich hörte, wie er den Schlitten sofort über den knirschenden Schnee des Vorhofs führte. Joseph Branco hatte nicht sofort begriffen. »Aufstehen, einpacken!« sagte ich. Zum erstenmal tat es mir weh, daß ich kommandieren mußte.
    Als wir fertig waren und eng aneinandergepreßt in dem kleinen Schlitten saßen, sagte Baranovitsch zu mir: »Steig ab, ich habe noch etwas vergessen.« – Wir gingen ins Haus zurück. Zum letztenmal umfaßte ich Küche, Stube, Fenster, Messer, Geschirr, den angebundenen Hund, zwei Gewehre, die aufgestapelten Felle mit verstohlenen Blicken, vergeblich geheimen, denn Baranovitsch bemerkte sie wohl.
    »Hier«, sagte er und gab mir einen Revolver. »Deine Freunde werden«, er vollendete den Satz nicht. Ich steckte die Pistole ein. »Kumin wird dich nicht untersuchen. Gib ihm nur den Tee und die Machorka.« Ich wollte danken. Aber wie kümmerlich hätte da ein Dank geklungen! Ein Dank aus meinem Munde! Es fiel mir ein, wie oft im Leben ich das Wort »Danke!« leichtfertig ausgesprochen hatte. Ich hatte es geradezu entweiht. Wie hohl hätte es in Baranovitschs Ohren geklungen, mein gewichtsloses Dankeswort. Und sogar mein Händedruck wäre etwas Leichtgewichtiges gewesen – und überdies zog er die Fäustlinge an. Erst als wir an der Stelle angekommen waren, an der er uns einmal abgeholt hatte, streifte er den rechten Fäustling ab, drückte uns die Hand, sagte sein gewohntes »Gebe Gott Gesundheit!« und rief dem Grauen ein kräftiges »Wjo!« zu, so, als fürchtete er, wir könnten stehenbleiben. Er kehrte uns den Rücken zu. Es schneite. Er verschwand mit der Schnelligkeit eines Gespenstes im dichten Weiß.
    Wir fuhren ins Lager. Kumin

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