Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Orientreise. Er schrieb in Mailand an einem Roman und wollte die Szenen – wie sonst seine Bildentwürfe für Gemälde und Fresken – hinsichtlich Haltung, Perspektive, Farbigkeit des Erzählstils und Dramatik prüfen. Die Bauern glaubten ihm jedes Wort, und der Maestro, der Poet sein wollte, war zufrieden. Sie waren sogar so beeindruckt von seinen Reisen ans Ende der Welt, dass sie sich – und ihn – fragten, was der Maestro denn nun in ihrem kleinen Dorf am anderen Ende der Welt wollte.
»Mein Freund und ich werden morgen den Berg am Ende des Tals besteigen«, erklärte Leonardo und trank noch einen Schluck Bier.
Schlagartig war es still in der Osteria. Alle starrten uns an, als hätten wir völlig den Verstand verloren. Und, ehrlich gesagt: Ich sah Leonardo ebenso überrascht an. Er hatte mir nicht gesagt, was er vorhatte.
»Das ist völlig unmöglich«, erklärte uns einer der Bergbauern. »Da kann niemand hinauf. Es gibt keinen Weg.«
»Wenn wir den Gipfel erreicht haben, gibt es einen Weg«, konterte Leonardo scharfsinnig.
»Der Berg ist zu hoch. Dort oben kann niemand überleben.«
»Die Vögel können es«, widersprach Leonardo.
»Der Berg ist zu steil. Habt Ihr Euch einmal den senkrechten Steilabbruch und die Eisfelder auf der Ostflanke angesehen? Da steigt niemand hinauf. Völlig unmöglich.«
»Völlig unmöglich«, das war ein Wort, das Leonardo und mich nicht aufhalten konnte. Meist erreichte es das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war: uns zur Vernunft zu bringen.
Als Leonardo und ich uns in das Gastzimmer zurückzogen, um schlafen zu gehen, fragte ich: »Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast? Dass du diesen Berg besteigen willst?«
»Ich will ihn ja nicht besteigen, Caterina. Du willst ihn besteigen«, geruhte er mir zu erklären, während er es sich im Stroh gemütlich machte und sich in seine Decke wickelte. »Und was du willst oder nicht willst, weißt du selbst am besten – jedenfalls verkündest du es täglich mir und dem Rest der Welt.«
» Ich will diesen Berg besteigen?«, fragte ich verblüfft. »Und wozu sollte ich das tun?«
»Wozu ist Moses auf den Berg Sinai gestiegen und Dante auf seinen Läuterungsberg?«, fragte Leonardo.
Ich befürchtete, dass ich etwas viel Erschreckenderes finden würde als einen brennenden Dornbusch oder die Vision des geliebten und verlorenen Menschen. Ich fürchtete weder Gott, mit dem ich vor Monaten endlich Frieden geschlossen hatte, noch eine Strafpredigt, wie sie Beatrice ihrem Geliebten Dante gehalten hatte, denn ich war Giovanni treu geblieben in meiner unsterblichen Liebe zu ihm. Nein, es war etwas viel Beängstigenderes, was ich dort oben zu finden fürchtete: mich selbst.
»Sag du es mir, allwissender Leonardo: Wozu sind Moses und Dante hinaufgestiegen?«, fragte ich schicksalsergeben.
Leonardo lächelte rätselhaft: »Um wieder herunterzukommen.«
Noch vor Sonnenaufgang brachen wir auf. Die Pferde hatten wir im Stall der Herberge zurückgelassen.
Jeder von uns trug einen schweren Rucksack. Leonardo hatte sich einen Skizzenblock, Kohlestifte, Vorräte, Wasser und Brennholz für zwei Personen und drei Tage aufgebürdet, und ich schleppte eine Decke und eine Tasche voller Seidenstoff. Wie viele Hosen, Seidenhemden und Jacken will Leonardo denn auf dem Berg tragen, wenn er, der Gipfelstürmer, sich selbst porträtiert? Soll ich ihm vielleicht auch noch den Spiegel vorhalten?, fragte ich mich ärgerlich, beschränkte mich aber darauf, ihm einige bissige Bemerkungen über seine Eitelkeit hinterherzuwerfen, doch er zuckte nur mit den Schultern und ging voraus.
Am Ufer eines reißenden Baches ließen wir eine verlassene Alm hinter uns und wanderten immer weiter, bis wir zu einer abgegrasten Weide kamen. Immer höher stiegen wir durch die blühenden Wiesen, durchquerten verstreute Kuhherden, umgingen einen felsigen Grat und rasteten nach drei Stunden Aufstieg zum ersten Mal am Rand des Gletschers. Während ich an einem Kanten Schwarzbrot knabberte, glitt mein Blick über den zerfurchten Firn und die senkrechten Felszinnen hinauf zum Gipfel, der scheinbar unerreichbar über uns in den tiefblauen Sommerhimmel ragte.
Dann durchquerten wir den Gletscher. Das ist so leicht dahingesagt. Vier Worte: Wir durchquerten den Gletscher. Vier Worte: Weicher Tiefschnee, blankes Eis, tiefblaue Gletscherspalten, brüchige Schneebrücken. Vier Worte: Unerfahren, unerschrocken und im Grunde unwissend, aber mit einer gehörigen Portion
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