Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Ekstase der Gottesnähe zu finden, waren wunderschöner und in poetische Worte gepresster Unsinn!«, lautete Leonardos vernichtendes Urteil. Ich wollte aufbegehren, aber er unterbrach mich: »Hör auf, ›San Giovannis‹ neunhundert Dogmen nachzubeten, und beginne zu denken «, fuhr er mich an. Er tippte mir mit dem Finger an die Stirn. » Tota libertas est in ratione – die Freiheit ist im Verstand, Caterina, nicht im Fühlen. Sag mir, was du gelernt hast! Und komm mir nicht wieder mit Sokrates’ Wortspiel: ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹. Das war doch nur ein Scherz von ihm! Dies ist keine Initiationsprüfung, wo auswendig gelerntes Wissen abgefragt wird. Es ist deine Examination zur Maestra, deine Transformation zum Adepten der Alchemie!«
Leonardo hatte Recht, und diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte die ganze Zeit Weisheit mit Wissen verwechselt, mit der Erkenntnis des Sokrates, niemals auch nur ahnen zu können, was ich alles nicht wusste. Weisheit war mehr als das. Wissen war lehrbar und lernbar: exoterische, also weltliche Wissenschaft, Philosophie und Theologie. Weisheit war innere, esoterische Erfahrung, Einsicht – Handeln und Geschehenlassen im rechten Verhältnis. Was für eine Närrin ich gewesen war!
Er stand vor mir und beobachtete mich. Er ahnte wohl, was in mir vorging. »Was weißt du über den Menschen?«, fragte er etwas versöhnlicher.
»Ich verstehe nicht …«
»Was ist der Mensch? Und strapaziere meine Geduld nicht mit Unsinn wie: Homo est animal, ein gefallener Engel und ein göttliches Tier, ein Spiegelbild Gottes. Wer also bist du?«
»Caterina«, sagte ich.
»Das ist dein Name, aber nicht dein Ich .«
Was wollte er denn hören? Die Verwirklichung aller seiner Möglichkeiten, so hatte Aristoteles den Menschen definiert. Aber der Mensch war mehr. Ich war mehr!
»Der Mensch ist die Überschreitung der von Gott festgelegten Grenzen seines Selbst, wenn er sich aus eigener Kraft zum Göttlichen erhebt. Um Ihm nahe zu sein. Um Ihm ähnlich zu sein«, antwortete ich.
»Nicht schlecht – für den Anfang«, meinte Leonardo. »Dann lass uns heute Nacht ein paar dieser Grenzen überschreiten. Komm mit!« Er winkte mir, ihm zu folgen.
Der nächste Saal war völlig finster. Keine Kerze brannte. Trotzdem verband Leonardo mir mit einem schwarzen Tuch die Augen.
Ich stolperte vorwärts, bis ich an einen Arbeitstisch stieß. »Was ist das?«, fragte ich, als meine Hand etwas Kaltes berührte.
»Sag du es mir!«, forderte er von der anderen Tischseite.
Mit beiden Händen tastete ich, berührte etwas und … zuckte zurück. »Das ist eine Leiche«, stieß ich hervor, bemüht, mein Entsetzen zu unterdrücken. »Eine junge Frau, noch nicht lange tot. Sie ist kalt, aber die Leichenstarre ist noch nicht gewichen.«
Deshalb hatte Leonardo die Examination auf Mitternacht gelegt! Doch woher hatte er die Leiche? Aus dem Ospedale Maggiore, dem Krankenhaus von Mailand, das nur ein paar Straßen entfernt lag! Aber das Sezieren von Leichen war streng verboten, nicht einmal einem Chirurgen des Ospedale war es gestattet …
Leonardo ergriff etwas, das auf dem Tisch lag, und drückte es mir in die Hand. Ich ertastete es und beinahe hätte ich mich geschnitten: Es war ein Skalpell. Er erwartete also allen Ernstes, dass ich an dieser Leiche herumschnitt, sie von einem Menschen zu einem Klumpen Fleisch transformierte?
»So, und nun kommen wir zur Examination«, kündigte Leonardo wie ein Professor an der Sorbonne die Magisterprüfung an. »Ich werde dir drei Fragen stellen. Wenn du sie beantworten kannst, hast du die Prüfung bestanden und darfst dich Maestra nennen.«
»Wie lautet die erste Frage?«, seufzte ich. Warum fragte ich überhaupt – ich konnte es mir doch denken!
»Erste Frage: Was ist der Mensch?«
Ich dachte an das Fresko in Santa Maria Novella in Florenz, wo ich Giovanni und Girolamo in der Weihnachtsnacht gefunden hatte. Der Maler Masaccio hatte ein Skelett gemalt, eine Mahnung an die Vergänglichkeit irdischen Strebens, darunter die Inschrift: ICH WAR , WAS DU BIST , DU WIRST SEIN , WAS ICH BIN . Aber nein: Leonardo war lange genug in Florenz gewesen – er kannte dieses Fresko.
Ich tastete mit der Linken über den kalten Körper der Toten und unterdrückte mühsam die aufsteigende Übelkeit. Es war nicht das Sterben, was mich so erschreckte: Ich hatte Lorenzo sterben sehen und Angelo und Giovanni, hatte ihre Hand gehalten bis zum letzten
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