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Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)

Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Überlebenswillen, kämpften wir uns durch das zerklüftete Eisfeld. Aber der Gletscher war erst der Anfang.
    Der gesamte Aufstieg war ein heroisch inszenierter Selbstmord. Leonardo und ich waren auf dem besten Weg, uns zugrunde zu richten. Unser Tod wäre so spektakulär gewesen, wie es unserem extravaganten Geschmack für dramatische Inszenierungen entsprach. Auch wenn niemand unsere zerschmetterten, erfrorenen Leichen finden würde …
    Wir stiegen hinauf zu einem Felssporn, der höher als Giottos Campanile in Florenz über einem Schotterfeld geborstener Felsen aufragte, umkletterten ihn, um zu einer Felsterrasse zu gelangen, wo wir erneut rasteten. Die Sonne neigte sich bereits über den Horizont, und es wäre Irrsinn gewesen, an diesem Tag noch weiter zu gehen. Wir schlugen unser Lager auf. Mit anderen Worten: Ich breitete die Decke auf den Felsenboden, und Leonardo entzündete im Schutz einer Felswand ein Feuer, auf dem wir unsere Abendmahlzeit zubereiteten.
    Die untergehende Sonne, die wir von unserem Lagerplatz an der Ostflanke des Berges nicht sehen konnten, zauberte ein glühendes Inferno in Rot und Gold an den Abendhimmel, das bis zur letzten Schattierung meinem Seelenzustand entsprach. Sobald es dunkel war, rollten Leonardo und ich uns in die Decke und wärmten uns gegenseitig.
    Die aufgehende Sonne fand uns schon beim Aufstieg durch die gewaltige Eismauer der Ostwand. Ein unvergesslicher Anblick, der für all die Torturen entschädigte – die eisige Kälte, die Schmerzen in Händen und Füßen, die tränenden Augen und die Atemnot!
    Durch eine steil aufsteigende Rinne, die von Eis- und Steinlawinen geformt schien, kletterten, nein: rutschten wir Schritt für Schritt vorwärts. Wir gingen angeseilt, aber ich fragte mich, ob wir uns hätten retten können, wenn wir wirklich ausgerutscht wären, oder ob wir einfach nur beide miteinander in den Tod gestürzt wären. Nach der Rinne ging es noch zwei Stunden durch die Felsen – eine mühsame Kletterei, deren Eintönigkeit nur von einem Eissturz unterbrochen wurde, vor dem wir unter einen Felsüberhang flohen. Dann hatten wir endlich den Felsgrat erreicht, der zum Gipfel hinaufführte.
    Wir hatten es geschafft: Der Berg war bezwungen! Jedenfalls dachte ich in diesem Augenblick, dass es der Berg war, gegen den ich gekämpft hatte …
    Die Sonne stand im Zenit und warf keine Schatten, als ich mich erschöpft und keuchend in den Schnee sinken ließ, um die grandiose Aussicht vom Gipfel zu genießen. Ich fürchtete, dass Leonardo gleich wieder absteigen wollte, deshalb schnallte ich meinen Rucksack gar nicht erst ab.
    Mir war schwindelig, und mein Herz raste. Nicht nur wegen der dünnen Luft und der ungewohnten Anstrengung, Leonardos Rucksack voller Eitelkeiten einen Berg hinaufzuschleppen. Nicht nur, weil mir die ganze Welt zu Füßen lag oder ich dem Himmel so nah war. Sondern weil ich in diesem Moment glücklich war. Unbeschreiblich glücklich! Ein seltener, ein kostbarer Augenblick!
    Über mir der Himmel, unter mir die Welt. Damit war im Grunde alles gesagt. Alles, bis auf dieses euphorische Gefühl, mich von allem gelöst zu haben – wie damals, als das Schiff im Sturm auf den Atlantik hinausgetrieben worden war und ich zum ersten Mal in meinem Leben kein Land sehen konnte.
    Leonardo hockte neben mir im Schnee und skizzierte mit schnellen Schraffuren die schneebedeckten Berge, die unter uns aufragten, den klaren und unendlichen Himmel, der über uns leuchtete wie ein blauer Opal. Am Ende doch kein triumphierend lächelndes Selbstporträt?, dachte ich enttäuscht. Wofür, zum Teufel, hatte ich dann seine Sachen auf den Berg geschleppt?
    Ich erhob mich, obwohl meine Knie zitterten, und ging ein paar Schritte. Meine Stiefel sanken tief in den unberührten Schnee. War vor mir schon einmal ein Mensch hier oben gewesen? Vermutlich nicht. Auf einen Berg zu steigen war ebenso verrückt wie … wie nach Westen zu segeln, um nach China zu gelangen.
    Leonardo hatte seinen Skizzenblock wieder im Rucksack verstaut und trat neben mich.
    »Und nun?«, fragte ich ihn. »Auf welchem Weg steigen wir wieder hinunter?«
    »Ich habe entschieden, auf welchem Pfad wir aufsteigen. Du bestimmst, wie wir wieder absteigen«, erklärte er großzügig. »Es ist ja dein Berg.«
    »Ich verstehe nicht …«, begann ich.
    »Es führt immer nur ein Weg auf einen Berg. Aber es führen viele verschiedene wieder hinunter. Vom Gipfel aus, wo es niemand lange aushält, führt jeder Weg nach

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