Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
liebe ihn, ich meine: nicht so leidenschaftlich wie ich Giovanni geliebt habe, aber ich empfinde Herzlichkeit, Wärme, Zärtlichkeit für ihn. Er ist gnadenlos untalentiert in der Kunst der Alchemie und der Malerei, er ist ungebildet, vorlaut, faul und er bestiehlt mich, er intrigiert gegen mich und tut auch im Bett nicht immer, was ich wünsche. Aber ich liebe ihn. Nicht im Sinne von »haben wollen« oder »von ihm abhängig sein«, sondern von »nötig haben«, um Demut zu lernen. Und – weiß Gott – ich bin demütig und geduldig geworden, seit ich diesen kleinen Satan kenne. Ich habe nicht versucht, ihn zu ändern. Ich habe mich selbst geändert, weil ich ihn liebe.«
Ich starrte ihn an, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
»Und dich mag ich auch, Caterina. Sehr sogar. So sehr, dass ich mich auf diese endlosen Streitereien mit dir einlasse. So sehr, dass ich mein Leben riskiere und mit dir auf diesen Berg steige, damit du deinen Weg selbst wählen kannst.«
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Den leichten Weg über das Eis hast du mir gezeigt. Den Weg nach Paris. Welches ist der andere Weg?«
Leonardo nahm meine Hand und zog mich auf die andere Seite des Gipfels. Dann deutete er nach unten, die senkrecht abfallende Felswand entlang. »Dies ist der schwierige Weg. Er führt zurück nach Mailand. Er führt zu dir selbst.«
Ich blickte vorsichtig in den Abgrund hinab, wollte einen Schritt zurücktreten, doch Leonardo schob mich erbarmungslos an die Felskante heran. Ich stolperte, und mein Fuß glitt über den Rand. Um ein Haar wäre ich abgestürzt, aber Leonardo hielt mich fest.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich fallen würde. Wie ich in den Tod stürzen würde, um im Sterben mit Giovanni vereint zu sein wie Dante mit seiner Beatrice. Ich hatte keine Angst, obwohl der schwere Rucksack mich nach hinten zog. Wie lange würde Leonardo mich noch halten können?
»Öffne die Augen!«, befahl Leonardo. »Schau hinab in den Abgrund.«
Ich sah hinunter auf die scharfkantigen Felsen und das zerklüftete Schneefeld tief unter mir.
»Dein Sturz ist unvermeidlich, Caterina. Ich werde dich loslassen, und du wirst fallen, sehr tief fallen. Ob du lebend unten ankommst, ist allein deine Entscheidung.« Er griff an meinen Rucksack und drückte mir eine dünne Schnur in die Hand. »Solltest du dich während deines Sturzes aus dem Himmel entscheiden, dass du leben willst, dann zieh an dieser Leine.«
Ich starrte ihn verständnislos an, dann ergriff ich das Band mit der rechten Hand. Was hatte er vor?
»Ich hoffe, dass du die richtige Entscheidung triffst …« Leonardo zog mich an sich und küsste mich wie zum Abschied auf beide Wangen. Dann stieß er mich mit aller Gewalt von sich.
Ich stolperte, rutschte ab, meine Stiefel traten ins Leere, und ich stürzte in den Abgrund.
Der freie Fall konnte nicht länger als ein paar Herzschläge gedauert haben. Aber die Zeit zerdehnte sich zur Unendlichkeit, faltete sich ein und schloss Erinnerungen – die Szenen des Dramas, das ich »mein Leben« nannte – in sich ein. Die Bilder waren deutlicher als die Wirklichkeit, die Geräusche sanfter, die Düfte berauschender, die Lust intensiver, die Gedanken klarer. Ich hatte nicht das Gefühl zu stürzen, sondern zu schweben, als ob ein Engel mich festhielt, damit ich in Ruhe über alles nachdenken konnte, bevor ich unten aufprallte.
Mein ganzes Leben zog in einem einzigen Augenblick an mir vorüber und verdeckte mir den Blick auf die Wirklichkeit, den Blick in den tödlichen Abgrund. Alles erlebte ich noch einmal – alles, was ich in meinem Leben getan hatte und auch alles, was ich nicht getan hatte, woran ich Schuld hatte. Handeln und Nichthandeln, Geschehenlassen aus Unwissenheit, Konsequenzen, Leid und Schuld. Tod. Aber auch Achtsamkeit und Vergebung. Liebe. Ein Leben voller glücklicher Augenblicke: Carpe diem! Carpe momentum!
Seltsamerweise waren es nicht nicht die tiefen Momente in diesem Meer aus Erinnerungen, die mich berührten – nicht meine Entscheidung, Lorenzo mit meiner Herkunft als eine Medici zu konfrontieren, nicht der Augenblick, als er mir mit seinem letzten Atemzug gestand, mein Vater zu sein, nicht die Nacht meiner Initiation in Giovannis Armen. Nichts von alledem. Sondern es war die schimmernde Gischt an der bewegten Oberfläche meines Lebens, winzige Augenblicke, angefüllt mit Gefühlen.
Freundschaft: Der Augenblick, als Girolamo mich zum ersten Mal Celestino nannte und
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