Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
unten, zurück ins Leben. Sie sind nur unterschiedlich lang und gefährlich.
Auf dem Gipfel gibt es kein Ziel mehr – außer lebendig unten anzukommen. Das Ziel, der Gipfel, war nur ein Orientierungspunkt an deinem Horizont, der deinem Weg die Richtung gab. In Wirklichkeit ist der Weg das Ziel, und das scheinbare Ziel ist nur das Ende des einen Weges und der Beginn eines neuen. Da es also völlig sinnlos ist, möglichst schnell am Ende des einen und am Anfang des nächsten Weges zu sein, kannst du dir ein wenig Zeit lassen und den Aufstieg genießen, die Aussicht bewundern und dich bemühen, die Dinge am Wegesrand – winzige Blüten von Glück – nicht unbesehen zu zertrampeln.
Wenn du auf dem Gipfel angekommen bist, gibt es kein Ziel mehr – keine Transmutation, keine Erfüllung, kein anderes Glück als das, angekommen zu sein. Und keine andere Freiheit als die, den Weg des unvermeidlichen Abstiegs selbst wählen zu dürfen.« Leonardo deutete nach Westen. »Wenn du in diese Richtung läufst – das ist der bequeme Weg – überquerst du den Gletscher dort unten. Wenn du in dieses Tal dort drüben hinabsteigst«, Leonardo deutete nach Norden, »dann erreichst du nach ein paar Stunden Wanderung die Rhône. Flussabwärts, hinter Genève, wendest du dich nach Nordwesten, bis du Paris erreichst. Dort kannst du an der Sorbonne deine Verehrung von »San Giovanni« endlos fortsetzen und – wenn es dir Vergnügen bereitet – Maître Nicolas Flamel bis zum Funkenflug reizen, wie du es mit mir versucht hast.«
»Es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe, Leonardo«, entschuldigte ich mich für meine Launen. »Ich wollte nicht …«
»Doch, mia cara, du wolltest. Und wie du dich mit mir streiten wolltest! Du hast dich an mir gerieben, bis die Funken flogen und Giacomo in Deckung ging. Du hast dich an mir wund gerieben, damit du den Schmerz über Giovannis Tod verdrängen kannst, damit du überhaupt noch Leben in dir spürst!«
Ich hielt die Luft an, wollte protestieren, doch er unterbrach mich:
»Du streitest mit mir, weil ich nicht wie Giovanni bin. Ich werde dir etwas verraten, Caterina: Ich bin nicht Giovanni, und ich will auch nicht sein wie er! Ich bin ich!«
»Leonardo …«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
»Und ich streite mit dir«, übertönte er mich mühelos, »weil ich Mitleid mit dir habe. Du tust mir Leid. Es kostet mich den letzten Nerv, aber irgendjemand muss dir Widerstand leisten und dir einen Halt geben, bevor du dich in den Abgrund stürzt. Denn stürzen wirst du.«
Ich starrte ihn an und versuchte zu verstehen, was er mir sagen wollte.
»Giovanni ist tot«, erklärte er mit einem Ausdruck in den blauen Augen, der mir Angst machte.
»Ich liebe ihn«, rief ich. »Ich kann ihn nicht vergessen.«
»Ich habe ihn auch geliebt, Caterina. Er war mein Schüler, mein Freund. Gott weiß, wie sehr ich ihn geliebt habe.« Leonardo sah mir in die Augen, und ich ahnte, wie Leonardo Giovannis Schönheit verehrt, nein: angebetet hatte. Giovanni hatte ihn zurückgewiesen! »Die unsterbliche Liebe ist tödlich, denn sie führt ins Inferno«, erklärte Leonardo leise. »Hör auf, deinem Geliebten nachsterben zu wollen, indem du dich selbst aufgibst, indem du sein Leben lebst, nicht deines. Daran ist nichts Heroisches, nichts Würdevolles.«
Ich sank in den Schnee und barg mein Gesicht in den Händen.
Leonardo setzte sich neben mich und legte tröstend den Arm um mich. »Wenn wir sagen: Ich liebe dich, dann meinen wir eigentlich: Verlass mich nicht, denn ich brauche dich. Ist das Liebe? Ist das Freiheit?«
Ich schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen.
»Nein, das ist keine Liebe«, beantwortete er seine Frage selbst. »Das ist nichts als Angst vor der Einsamkeit. Wer sich selbst liebt, muss keine Angst haben, mit sich selbst allein zu sein.«
»Ich bin einsam, Leonardo«, presste ich unter Qualen hervor. Das war schwieriger als eine lange Beichte bei Girolamo.
»Ich auch, Caterina. Ich bin auch einsam. Aber im Gegensatz zu dir versuche ich, mich selbst zu lieben. Du nennst es Eitelkeit, Stolz, Überheblichkeit, die kapriziösen Launen eines Genies. Von mir aus: Nenn es, wie du willst. Es ist eben mein Weg. Und ich habe mich entschieden, ihn nicht allein zu gehen. Als du mich vor einigen Tagen zornig aufgefordert hast, Giacomo wegzuschicken, hast du mich verletzt. Deine scharfkantigen Worte haben eine tiefe Wunde gerissen. Ich liebe Giacomo.«
»Du liebst ihn?«, fragte ich verdutzt.
»Ich
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