Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
dann kehrte ich ins Laboratorium zurück, um ein oder zwei Stunden zu schlafen, um weiterzumachen mit dem, was ich vor zwölf Jahren begonnen hatte. Zwölf Jahre! Mein halbes Leben!
Ich war todmüde – von den Anstrengungen der letzten Tage, von den Gefühlen, die mein Herz zerrissen: die Gedanken an Guido, an den sterbenden Rodrigo, an den kranken Cesare … an mich selbst, die ich von Stunde zu Stunde schwächer wurde. Ich rollte mich auf der schmalen Liege im hinteren Teil des Laboratoriums zusammen, wo ich in den letzten Jahren schon unzählige Nächte verbracht hatte, und schlief ein.
Ich erwachte im ersten Tageslicht und erschrak, als ich mich nicht bewegen konnte. Mein Körper war wie zu Stein erstarrt. Jede Bewegung schmerzte mich, und das Aufstehen schien unmöglich. Aber das Wort »unmöglich« hatte mich noch nie von irgendetwas abgehalten! Nur mit Mühe schaffte ich es, mich umzudrehen, mich auf den Boden fallen zu lassen und zur Holzkassette auf dem Arbeitstisch hinüberzukriechen. In meiner Verzweiflung nahm ich eine weitere Phiole ha-Our. Eine war noch übrig … ein paar Stunden Lebenszeit.
Als die Schmerzen nachgelassen hatten, setzte ich mich an meinen Arbeitstisch, blätterte in Giovannis Aufzeichnungen, erinnerte mich an viele Experimente, die wir in Florenz zusammen durchgeführt hatten. Dann die Notizen zur Separatio und seine Hoffnungslosigkeit, mich verloren zu haben, die Mortificatio und seine Umkehr zur Welt und zu mir. Schließlich die Erschaffung des weißen Pulvers in der letzten Operation. Seine Coniunctio war eine gewaltige Explosion gewesen …
Ich stutzte, blätterte nochmals zurück und starrte auf die Skizze von Giovanni und mir – von Guido und mir – in inniger Umarmung. Giovannis Alambic war explodiert, als er in der Agonie seiner Gefühle diese Skizze gezeichnet hatte, weil er sich nach mir sehnte, weil er mich nicht hatte, weil wir getrennt waren.
Nun erkannte ich, welchen Fehler ich gemacht hatte: Ich hatte nicht bedacht, dass in der Alchemie – wie in der Welt – nicht nur die logisch nachvollziehbaren Gesetze von Ursache und Wirkung existieren, sondern Ereignisse auch synchron ablaufen können – gleichzeitig, ohne aufeinander einen erkennbaren Einfluss auszuüben. Zufall und Notwendigkeit! Oder eben Magie …
Das ist es!, dachte ich atemlos. Die Explosion war eine unkontrollierte Separatio gewesen, die das entstandene Elixier – das giftige Elixier – in das weiße Pulver verwandelte, das ich auf dem Boden von Giovannis Laboratorium gefunden hatte. Und das ich Tage später in der Apotheke von San Marco zum Lebenselixier tingierte, indem ich es … ja: indem ich es erneut zusammenführte – in einer zweiten Coniunctio!
Wie gebannt starrte ich in den Athanor, in dessen Feuer die hermetische Phiole vor sich hinglühte, und überlegte. Meine Gedanken waren logisch nachvollziehbar, kein Zweifel. Aber waren sie deshalb auch wahr?
Ich dachte an den altägyptischen Osiris-Mythos: An Seths Zerstückelung des sterblichen Körpers von Osiris, die Separatio, an Osiris’ qualvollen Tod, die Mortificatio, und die Coniunctio, als Isis die im ganzen Land verstreuten Teile wieder zusammenfügte und Osiris damit unsterblich machte. Aber das war ja nicht das Ende ihrer Liebe: Osiris und Isis überwanden den Tod und fanden erneut zueinander, in einer zweiten Coniunctio: Ihr Kind Horus war das Ergebnis dieser Vereinigung!
Ein Mythos – oder eine symbolische Anweisung des ägyptischen Tempelpriesters Hermes Trismegistos?
Ich schlug die Bibel auf und las im Buch Genesis, wie Gott Sein Werk vollbracht hatte. Er hatte sechs Transmutationen beendet, bevor Er am siebten Tag ruhte – auch der Große Alchemist wartete. Dann, am achten Tag – Genesis Kapitel 2 – die erste Coniunctio zwischen den beiden Menschen. Sieben Transmutationen, dachte ich: Sieben! Aber dann las ich weiter: Die Versuchung und der Fall des Menschen. Gottes Drohung, dass der Mensch sterben wird, wenn er von den Früchten der Erkenntnis isst. Dann weiter: »Denn Staub bist du, und zu Staub musst du werden« – die Vernichtung der Materie in der Mortificatio.
Dann die Separatio – die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, damit er werden konnte, was er ist: ein sterblicher Mensch, ein ewig suchender Mensch, der den Weg zurück ins Paradies nicht finden kann und deshalb das Glück jeden Tag neu erschafft … in sich selbst … mit einem anderen Menschen …
Mit zitternden Händen blätterte ich um. Da
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