Die Karte der Welt (German Edition)

seine natürlichen Grenzen hinauszuwachsen. Sie trennen den Menschen vom Tier, und auch deine Art kann sich über den Rang des Tieres erheben, unter meiner Führung.« Die letzten drei Worte sprach er betont langsam.
    Eber verbeugte sich, um zu zeigen, dass er verstanden hatte.
    Kluges Tier . Eber war bereits Zeuge geworden, wie Vill Narbe ersetzt hatte, nachdem er dabei erwischt worden war, wie er mit Vills kostbarem Bogen herumspielte, während Vill schlief. Narbe war sofort zum Späher degradiert worden, und alle wussten, was aus den letzten beiden Spähern geworden war.
    Vill hatte dafür gesorgt, dass Eber und Schnüffler genau verstanden, warum Narbe an die Front versetzt worden war. Ehrgeiz war das eine, ihn förderte Vill, aber keiner seiner Düsterlinge durfte auch nur auf den Gedanken kommen, dass er Vill verdrängen könnte.
    Nachdem Narbe nicht mehr zur Verfügung stand, hatte Vill Ersatz gebraucht und Schlitzer trotz seiner Kleinwüchsigkeit zu seinem Leibwächter befördert. Auch den bösartigen und verschlagenen Schlitzer musste er zwar im Auge behalten, aber dafür war er weit vielseitiger einsetzbar.
    Der Frontverlauf war denkbar simpel. Der Fluss bildete eine natürliche Grenze im Westen, hinter der sich Katapult und Lager befanden. Im Süden gab es eine Brücke, aber im Norden tobte der Fluss so ungestüm, dass er dort unmöglich zu passieren war. Östlich des Turms trat Sumpfland an die Stelle der offenen Wiesen. Dort hatte Vill einen weiteren Späher eingebüßt. Manchmal vergaßen die instinktgesteuerten Düsterlinge ihren Auftrag und kamen nicht mehr zurück, aber vielleicht war der Späher auch im Moor versunken. Es spielte keine Rolle. Jetzt, da das Katapult fertig war, konnte er drei Zehnertrupps auf Erkundung schicken und immer noch siebzig Soldaten im Lager behalten.
    Blieb nur das Problem mit Fen und seiner Bande. Die Düsterlinge hatten noch Proviant für mindestens einen Tag, erst danach würden die Kinderbanditen an die Reihe kommen. Obwohl er den Tränen nahe war vor Verzweiflung, hatte der kecke Fen immer noch nicht genügend Angst, dass Vill sicher sein konnte, er würde keinen Ausbruchsversuch unternehmen. Er und seine Bande hatten die Schrecken des Waisenlebens auf der Straße überstanden, waren in Verliesen eingesperrt gewesen und von sadistischen Wärtern gefoltert worden, hatten als Sklaven in den Schiffswerften von Buchtend geschuftet. Mit ihren neun, zehn oder zwölf Jahren hatten die meisten bereits mehr als einmal dem Tod ins Auge geblickt, und die Düsterlinge waren wahrscheinlich noch nicht einmal die schlimmsten Häscher, in deren Hände sie jemals geraten waren. Manchmal konnte das Leben schlimmer sein als ein schneller Tod.
    Wie also sollte Vill den kleinen Fen brechen, der selbst jetzt noch erhobenen Hauptes umherstolzierte, seinen rothaarigen Wachhund stets an der Seite?
    Vill setzte sich ans Feuer und gebot seinen Düsterlingen, Ruhe zu halten, damit er nachdenken konnte. Es galt, sich mit klarem Verstand den drei drängendsten Problemen zu widmen: Wie konnte er Fen und seine Bande gefügig machen? Wie konnte das Katapult die Munition noch höher schleudern? Und wie konnte er den Menschen im Turm noch mehr Angst einjagen?
    Vill blickte auf und sah, wie Schlitzer den Augapfel eines erbeuteten Rehs über den Flammen röstete und dabei fasziniert dem Zischen und Blubbern der kochenden Gallertmasse lauschte.
    »Was, Schlitzer«, begann Vill, »hältst du von folgendem Vorschlag …?«

39
    Die Kinder rannten durch die Tunnel wie eine Schafherde, in die ein Wolf eingebrochen war. Adara trieb sie vorwärts, während Brynn alle Hände voll zu tun hatte, die verängstigten Kleinen davon abzuhalten, sich gegenseitig totzutrampeln.
    Wex führte sie von Luke zu Luke, die die Zwerge sofort mit einem hohlen Krachen hinter ihnen zuschlugen, nachdem sie hindurch waren.
    Kraven, Fretter, die Palastsoldaten und Cirilla waren bereits oben. Nur mit Arkh hatte es ein Problem gegeben – Blurdo hatte sich standhaft geweigert, ihn mitzunehmen. Er hatte sogar vorgeschlagen, das Halbwesen zu töten, was Fretter wiederum abgelehnt hatte, und das Zwergenoberhaupt hatte sich schließlich gefügt. Blurdo war viel zu begierig darauf gewesen, möglichst schnell nach oben und damit außer Reichweite des Katapults zu kommen, um lange zu debattieren. Jetzt kauerte Arkh mit falschen Fesseln an Händen und Füßen in einer Nische an der Rückseite des Turms, die die Geschosse nicht erreichen