Die Karte der Welt (German Edition)
Fretter entlang der Ersten Straße Richtung Norden, auf die Berge zu. Die Landschaft veränderte sich allmählich: Die weiten Saubohnen- und Gerstenfelder, zwischen denen hier und da strohgedeckte Bauernhäuser standen, wichen den unbewohnten Wäldern der Vorhügel. Ab und zu kamen Leute aus den umliegenden Dörfern hierher, um Riesenkiefern zu schlagen und das Holz mit ihren Karren nach Süden zu bringen, aber nur solange es noch hell war. Lediglich Gesetzlose, die auf der Flucht vor Krysts Soldaten waren, wagten es, eine Nacht in den Zornbergen zu verbringen, so nahe am Schleier, und selbst sie blieben nicht lange. Es war zwar nicht offiziell verboten, die Wälder zu betreten, aber die Dorfpriester führten eine Liste mit den Namen all derer, die sich bekanntermaßen öfter dort aufhielten, und nicht selten tauchten diese Namen dann auf den Vermissten-Aushängen an den Kirchentüren in Nord-Abrogan wieder auf.
Doch all das schien Lothario nicht im Geringsten zu bekümmern. »Da ist ja unser Lager!«, erklärte er gutgelaunt und deutete auf eine dünne Rauchfahne, die zwischen den Bäumen vor ihnen aufstieg.
»In früheren Tagen wäre dieses Feuer für jeden Banditen hier in der Gegend eine unwiderstehliche Einladung gewesen«, bemerkte Fretter.
»Du meinst, bevor Krysts Großvater die eine Hälfte der Banditen in Abrogan angeheuert hat, um die andere umzubringen. Als sie zurückkehrten und ihre Belohnung einfordern wollten, hat er sie in einen Hinterhalt gelockt. Seitdem hat es in Abrogan kaum noch Banditenüberfälle gegeben«, erläuterte Lothario. »Kanntest du diese Geschichte, Junge?«
»Nein«, erwiderte Wex mit großen Augen. »Ist so etwas nicht gegen das Gesetz?«
»Solange die Leute zurückdenken können, sitzt ein Kryst auf dem Thron. Gesetz ist, was der Fürst befiehlt.«
»Ich weiß nur, dass das Schwert meines Vaters in den vielen friedlichen Jahren schon Rost angesetzt hat«, sagte Wex und tätschelte die Scheide an seinem Gürtel.
»Lass dein Schwert, wo es ist«, warnte ihn Fretter. »Unsere hervorragend ausgebildeten Wachen beobachten dich. Selbst jetzt.«
»In der Tat«, stimmte Lothario grinsend zu. »Sobald du Anstalten machst, einem von uns damit zu Leibe zu rücken, wirst du unverzüglich von einem halben Dutzend Pfeilen durchbohrt.«
Wex blickte sich um und sah zwei Männer, die entspannt an einem Baum lehnten und sich unterhielten. Keiner der beiden hatte seinen Bogen schussbereit.
Fretter räusperte sich. »Ihr da! Auf Posten mit euch!«
Kurz darauf führten sie ihre Pferde zu Fuß ins Lager und übergaben sie den dort wartenden Soldaten.
»Kümmert euch auch um das Ferkel«, befahl Lothario.
Einer der Soldaten nickte gehorsam, und Wex holte das strampelnde Schweinchen aus seinem Bündel.
Noch sechs weitere Soldaten machten sich im Lager zu schaffen, erledigten irgendwelche Arbeiten oder spielten Würfel. Ein Stapel Kettenhemden, Schilde mit dem Kryst-Wappen – eine Krone, die über einem Berggipfel schwebt – und etwa acht bis zehn Metallhelme lagen auf Leinensäcken, um sie vor dem feuchten Boden zu schützen. In der Mitte der kreisförmigen Lichtung loderte ein kleines Feuer. Daneben stand ein beleibter Koch und fuchtelte mit einem Sieblöffel herum. Er schimpfte wegen eines zerbrochenen Tontopfs. Der für den Schaden verantwortliche Soldat ertrug die Tirade mit gesenktem Haupt, sorgsam darauf bedacht, nicht von dem Löffel erwischt zu werden. Nahe beim Feuer standen zwei große Fässer mit Trinkwasser, und es gab sogar einen Kupferkessel mit schwenkbarem Bügelgriff. Die gesamte Ausrüstung war auf der Höhe der Zeit und in bestem Zustand, bis auf den kaputten Topf vielleicht. Palast-Qualität sozusagen.
»Heda! Hier kommt unser neuer Kartenzeichner«, tönte Lothario.
Die Soldaten blickten auf, erfreut, die Stimme ihres Hauptmanns zu hören. Doch als sie den einfachen Bauernjungen erblickten, machte keiner von ihnen Anstalten, Wex willkommen zu heißen. Es waren stolze Männer in blitzsauberen Kitteln, jeder trug farbige Kniehosen und eine fein gearbeitete Lederscheide an der Hüfte. Sie waren Palastwachen, daran gewöhnt, ihrer Arbeit unter dem wachsamen Blick des Hofadels mit einer Art stoischer Arroganz nachzugehen. Und Wex war ganz offensichtlich kein Adliger. Sie schienen wenig beeindruckt von den Schweinshauthosen, die seine Mutter für ihn gemacht hatte, und von ihm selbst noch viel weniger. Als er die Hand zum Gruß erhob, wandten sie sich wieder ihren
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