Die Karte der Welt (German Edition)
darauf hatte er seine gesamte Armee aus dem Sumpf gebracht. Jene, die von den Aussätzigen mit Zähnen oder Fingernägeln verletzt worden waren, ließ er ohne Vorwarnung töten. Den Grund erklärte er den Henkern erst im Nachhinein, und sie nickten, auf makabre Weise fasziniert, ohne wirklich zu begreifen. Sie hatten die Auswirkungen des Fluchs, der das Fleisch verfaulen ließ, aus nächster Nähe gesehen, und das genügte. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, Vills Befehl in Frage zu stellen.
Auf einer Lichtung gleich unterhalb des Kraterrands errichteten sie ihr Lager. Vill hatte sich dagegen entschieden, den Kamm noch vor Anbruch der Nacht zu überschreiten. Die Kälte auf dem verschneiten Südhang würde seinen Düsterlingen nicht gut bekommen. Besser, sie blieben hier im Warmen, auf diesem seltsam einladenden Fleckchen mit den zwei Wildpfaden, die hinein- und hinausführten. Sie würden sich ausruhen, um dann beim ersten Tageslicht die Grenze nach Abrogan zu überschreiten und den im Schnee leicht zu erkennenden Spuren zu folgen.
59
Wex spürte, wie er weggeschleppt wurde. Zuerst dachte er, es wäre ein Alptraum, geboren aus der Erinnerung daran, wie die zahnlosen Hoxxel-Brüder ihn die Zweite Straße hinaufgeschleift hatten. Unwillkürlich tastete er mit der Zunge nach seinem abgebrochenen Schneidezahn. Wex öffnete die Augen, aber es war immer noch dunkel, so dunkel, dass die schleichenden Gestalten, die ihn an den Armen gepackt hielten, lediglich als noch schwärzere Umrisse vor der über allem liegenden Nacht zu erkennen waren. Er hatte keine Ahnung, wer sie sein mochten. Keine Düsterlinge jedenfalls. So viel konnte er mit Sicherheit sagen, auch wenn sie genauso ranzig rochen. Dass seine Freunde ihn so über den Boden schleifen würden, war unwahrscheinlich, wenn sie ihn genauso gut wecken und auf seinen eigenen zwei Beinen gehen lassen konnten. Wex überlegte, ob er um Hilfe rufen sollte, war aber nicht sicher, wessen Aufmerksamkeit – ob von Freund oder Feind – er damit erregen würde. Es spielte ohnehin keine Rolle, wie er merkte, denn er war geknebelt.
Wex brüllte gegen das Stück Stoff in seinem Mund an und wand sich, erreichte damit aber nur, dass der Griff um seine Handgelenke noch fester und er umso schneller bergauf gezogen wurde. Bergauf? , dachte Wex. Das war das Letzte, wohin er wollte.
»Beruhige dich, Wexford«, flüsterte eine vertraute Stimme. Kraven.
Er wollte fragen, wohin sie unterwegs waren, aber der Magier machte keine Anstalten, ihm den Knebel aus dem Mund zu nehmen. Entweder konnte Kraven nichts tun, oder er steckte mit seinen Entführern unter einer Decke. Wex ließ sich also weiter über den Waldboden ziehen, bis er Schnee unter den Stiefeln der beiden Unbekannten knirschen hörte.
»Das ist weit genug.« Auch die Stimme kannte er. Es war Petrichs.
Wex hörte das Klingen eines Feuersteins, der gegen Metall geschlagen wurde. Winzige Funken regneten herab, und ein Zunderhäufchen auf dem Boden spuckte Flammen. Ein Schatten tauchte einen trockenen Ast in das tanzende Orange, bis er Feuer fing. Die Entführer waren zu viert.
Petrich ragte vor Wex auf und starrte auf ihn herab. Seine beiden bärtigen Begleiter hielten Wex gepackt. Kraven hatte die Karte.
»Der Junge ist ein Bauer aus dem Norden«, erklärte Kraven. »Es war sein Blut auf der Karte, das den Schleier versetzte.«
Der flackernde Fackelschein verzerrte Petrichs Gesicht zu einer hämischen Grimasse. Er streckte die Hände aus und zog Wex’ Augenlider nach oben. »Gut. Grünäugig wie der Erste. Mit seinem Blut werden wir den Schaden in Ordnung bringen, den er angerichtet hat. Und diesmal werde ich achtgeben, den Flecken Erde auszusparen, auf dem wir stehen. Rollt die Karte aus.«
Petrich nahm seinem Gehilfen die Fackel ab, damit er Wex festhalten konnte, und Wex roch den stinkenden Atem seines Häschers über der Schulter.
Der andere ging zu Kraven und half ihm mit der Karte.
Kraven entrollte nur den Teil, auf dem der Berg zu sehen war, auf dem sie sich befanden.
Die Zeichnungen tanzten im flackernden Schein der Fackel, als wären sie lebendig. Wex’ Oberkörper wurde nach vorn gedrückt, sodass er über der Karte schwebte, und Kraven nahm ihm den Knebel aus dem Mund.
Petrich stellte sich Wex gegenüber. »Nein. Er soll geknebelt bleiben«, erklärte er.
»Er wird nicht um Hilfe rufen«, erwiderte Kraven. »Ich werde es ihm erklären.« Der Zauberer wandte sich Wex zu. »Wir werden lediglich den Schleier
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