Die Karte der Welt (German Edition)
im Ansehen. Die Düsterlinge hatten bobachtet, wie Schnüffler nach dem Duell mit Fen das Marschtempo kaum noch hatte mithalten können. Der Zustand des kräftigen Düsterlings hatte sich zusehends verschlechtert. Er war weitere Male herausgefordert worden, um schließlich von einem ehrgeizigen, aber relativ schmächtigen Kontrahenten getötet zu werden, dem Vill wegen des abgebrochenen Horns den Namen Stummel gegeben hatte. Kein Düsterling war erpicht darauf, der Nächste zu sein, den Vill zu einem Duell befahl. Und jetzt, nachdem er sie zu einem Sieg über die Aussätzigen geführt hatte, war seine Position für die absehbare Zukunft gesichert.
»Ich habe die Anführerin gefunden«, grunzte Eber. »Eine alte Frau. Trägt Steine um den Hals.«
»Eine Kette?« Vill nickte. Die Aussätzigen waren ein primitives Volk und hatten so gut wie keine Kultur. Nicht eine der Leichen hatte irgendwelchen Schmuck getragen. Eine Halskette war gleichbedeutend mit Wohlstand. Wenn es tatsächlich die Anführerin war, die Eber ausfindig gemacht hatte, war sie nicht nur wohlhabend, sondern würde unter ihresgleichen einigen Einfluss haben. Vill fragte sich, ob sie sprechen konnte. Diejenigen, die sie getötet hatten, hatten nur unverständliches Gebrabbel von sich gegeben.
Eber führte ihn ins Dorf, eine armselige Ansammlung heruntergekommener Hütten mitten im Sumpf, in der Vill sich nicht länger aufhalten wollte als unbedingt nötig. Die Anführerin kniete zwischen zwei Düsterlingen, die sie in respektvollem Abstand links und rechts mit Schlingen um den Hals in ihrer Mitte hielten. Sie haben Angst vor der Krankheit , dachte Vill. Er selbst spürte keine Angst, doch die Vernunft riet ihm, nur so nahe heranzugehen, dass er mit ihr sprechen konnte. Die Halskette war plump, zeigte aber unmissverständlich an, dass die Frau in ihrem Dorf auf irgendeine Weise wichtig gewesen war. Und wenn auch sonst nichts dabei herauskommen sollte, hatte Eber ihm diesmal zumindest verlässliche Informationen überbracht.
»Deine Leute waren krank«, sagt er. »Wir haben deine Sippe von ihren Leiden befreit.«
Die Frau spuckte nach ihm, aber der Schleimklumpen flog nicht weit genug – ein Beleg, dass Vills Verstand ihm stets das Richtige riet.
»Waren vor kurzem Fremde hier?«
Die Frau schrie ihn an. Nicht eine einzige Silbe davon ergab einen Sinn.
»Macht ein Ende«, befahl Vill.
Ihre Bewacher rissen an dem Seil, jeder in seine Richtung. Ein Zucken ging durch den Körper der Frau, dann baumelte er leblos zwischen den beiden Düsterlingen.
Vill trat näher heran. Sie hatte einen Gegenstand unter ihren Lendenschurz geklemmt. Mit einem Stock stocherte er so lange daran herum, bis er herausfiel. Es war ein Dolch. Mit einer Klinge aus Stahl. Eine viel zu hoch entwickelte Waffe für ihre Besitzerin.
»Sie waren hier!«, erklärte Vill. Er wandte sich an Eber. »Fasst nichts an. Lasst alles liegen.«
Eber, der schon dabei gewesen war, sich den Dolch zu schnappen, zuckte zurück. Auch die vier Schwerter, die sie gefunden hatten, ließen sie da. Sie waren von guter Qualität und hätten in den Händen seiner Düsterlinge verheerende Waffen abgegeben, aber die Aussätzigen hatten sie berührt.
»Dieser Sumpf ist auf ewig verflucht«, schärfte Vill seinen Soldaten ein. Eine andere Erklärung für so etwas Komplexes wie eine ansteckende Krankheit würden sie nicht verstehen und verdienten sie auch nicht. »Ich hoffe nur, dass wir es nicht sind.«
In aller Eile verließen sie das Dorf. Die Hütten steckten sie in Brand, und was immer sich noch darin befand, verbrannte mit ihnen. Die Nacht brach allmählich herein, und Vill hoffte, den Rand des Kraters zu erreichen, bevor es dunkel wurde, damit sie nicht im Finstern durch den verseuchten Wald tappen mussten. Die warme, schwere Feuchtigkeit der Luft fühlte sich an, als wäre sie durchdrungen vom Aussatz. Sollte er daran erkranken, würde er sich töten, dachte Vill. Eine schlimmere Existenz, als bei lebendigem Leib zu verfaulen, konnte er sich nicht vorstellen, außer vielleicht jenen Dämmerzustand, den er im Schleier durchlebt hatte. Die Wahl war denkbar einfach, und Vill fragte sich, warum die Bewohner des Dorfes sich nicht genauso entschieden hatten. Vielleicht hatte es mit ihren Emotionen zu tun gehabt, überlegte er. Gefühle gaukelten dem Menschen etwas vor, gaben ihm Hoffnung, wo keine war. Vill hatte keine Hoffnung. Ziele waren alles, was er kannte. Und für den Moment genügte das.
Bald
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