Die Karte der Welt (German Edition)
Gesicht.
»Vater, wir müssen fliehen!«, rief Wex. »Es kommt eine …«
Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als der Mann sich umdrehte und Wex sein Gesicht sah: Sein Bart war verfilzt, der Schädel kahlgeschoren. Er trug eins der Kettenhemden, die kurz zuvor noch den Soldaten aus Furtheim gehört hatten. Sein Blick war ausdruckslos und berechnend zugleich, wie der einer Eidechse, die überlegte, ob sie sich die Fliege an der Wand schnappen sollte oder nicht. Und er war Wex erschreckend vertraut.
»Sei mir gegrüßt, Wexford Stoli«, sagte Vill.
72
Der Rückmarsch zum Schleier dauerte einen halben Tag. Ohne ein größeres Heer konnte es Vill nicht riskieren, noch tiefer nach Abrogan vorzustoßen, also verschleppte er die Gefangenen in den Schatten des Schleiers.
Es war Gavel gewesen, der Vill zu Elgers Hof geführt hatte. Der dummdreiste, gierige Kaufmann war zu seinen Stallungen zurückgekehrt, um sein Geld zu holen. Ein Fehler. Jetzt lag er neben der Straße und besaß nichts mehr, auch nicht sein Leben. Auf dem Weg aus Zornfleck heraus waren sie an seiner Leiche vorbeigekommen. Gavel war nicht den angenehmen Tod eines Kaufmanns gestorben, zu Hause im warmen Bett, sondern lag in einer unwürdigen Stellung in Unterwäsche im Dreck, die Glieder verrenkt. Es hatte noch mehr Tote gegeben. Auf dem Weg zu Elgers Schweinezucht hatten die Düsterlinge sich durchs Dorf gemordet, und Vill hatte sie gewähren lassen. Der Metzger Samuel war ihnen samt Frau und Kindern zum Opfer gefallen. Sie lagen gleich neben ihrem Karren. Büttel Friar lag auf der Veranda des Rathauses, das auch sein Zuhause gewesen war. Andere waren bis zur Unkenntlichkeit von Keulen zerschlagen, und bei manchen war ein Stück herausgebissen. Der einzige Trost bestand darin, dass es weniger waren, als es hätten sein können. Hampten hatte die meisten noch rechtzeitig gewarnt.
Es war leicht gewesen, Fretter und den Rest der Gruppe abzufangen. Vill hatte seinen Düsterlingen befohlen, sich zwischen den Bäumen entlang der Straße auf die Lauer zu legen, und als die Eskorte die Stelle erreichte, war die Falle zugeschnappt. Die Soldaten hatten sich kampflos ergeben, und Eber hatte dafür gesorgt, dass niemand getötet wurde, bis Vill kam und bestimmte, wen er brauchen konnte und wen nicht. Mit der zusätzlichen Verantwortung für Frauen und Kinder hatte Fretter so lange gezögert, sich zwischen Kapitulation und Kampf bis zum Tod zu entscheiden, bis es zu spät gewesen war und nicht einmal mehr die Berittenen hatten fliehen können. Allerdings hatten die Düsterlinge Schneisen in die Bäume geschlagen, um freies Schussfeld zu haben, und es wäre wahrscheinlich ohnehin keiner entkommen. Doch so waren alle noch am Leben, sehr zu Wex’ Freude und Verzweiflung.
Der Marsch inmitten von schnatternden Düsterlingen war nervenzermürbend. An den Händen mit dünnem, widerstandsfähigem Seil gefesselt, das die Düsterlinge von den Flussmenschen erbeutet hatten, stolperten sie dahin, und Enrial und Brynn mussten sich dem ständigen Gegrapsche der aggressiven Männchen erwehren. Vills Befehl, diesen Menschen dürfe »kein Schaden zugefügt werden, außer sie leisten Widerstand«, bot wenig Trost, da Vill sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Definition von »Schaden« näher auszuführen. Fretter riet allen, den ausgelassen feiernden Düsterlingen auf keinen Fall Anlass zu geben, ihr Verhalten als Widerstand auszulegen. Die Karte war ihm selbstverständlich abgenommen worden, was seine katastrophale Stimmung noch verschlimmerte. Einmal mehr hatte er versagt und schlich dahin wie ein geprügelter Hund. Nur Pinch und Mungo schienen erstaunlich gelassen. Sie schritten einher und betrachteten die Landschaft, als wäre das Leben in Fesseln nichts Ungewöhnliches für sie. Etwas, das man am besten mit Gleichmut ertrug, bis wieder bessere Zeiten kamen.
Wex ging neben Vill. Er war nicht gefesselt. Der Düsterlingführer unterhielt sich ganz entspannt mit ihm wie ein höflicher Gastgeber, der sich für Herkunft und Zukunftspläne seines jungen Gasts interessierte. Seines unfreiwilligen Gasts, dachte Wex. Ein Gast, der zum Opfer seiner eigenen Gabe geworden war. Doch Wex war froh, dass wenigstens seine Freunde und sein Vater noch am Leben waren, und es schien in seiner Macht zu liegen, dafür zu sorgen, dass dies auch so blieb. Er beantwortete Vills Fragen und hoffte auf eine Gelegenheit, einen Handel mit ihm abschließen zu können, damit zumindest die anderen
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