Die Karte Des Himmels
seidenen Lumpen?
Jude kehrte zu den Regalen zurück und fand den Band mit den Ausgaben des Norwich Mercury von 1765. Es schien sinnvoll, die Suche mit dem 21. Juli zu beginnen – denn der 21. Juli galt als Esthers »Geburtstag« – aber es war auch möglich, dass ihre Familie sie schon früher vermisst hatte. Jude begann, die Ausgaben ab Mitte Juni durchzusehen.
Sie las und las, fand aber nichts über vermisste Kinder und praktisch nichts über Starbrough und über die Nachbarschaft, was auch nur andeutungsweise wichtig zu sein schien. Ein eifersüchtiger Lakai hatte eine Zofe aus einem Landhaus in der Nähe der Küste ermordet. Zwei Mädchen waren nach dem Tod eines wohlhabenden Händlers in Great Yarmouth verwaist, aber sie waren schon älter, sieben und neun Jahre alt. Jude wühlte sich durch den gesamten Juli, aber das einzige Ereignis, das überhaupt die Aufmerksamkeit des Norwich Mercury im Gebiet Starbrough Hall hatte auf sich lenken können, war die grausige Entdeckung einer weiblichen Leiche in den Wäldern nahe Holt. Die Frau war bereits seit einigen Wochen tot, und der Arzt, der die Leichenschau durchführte, sagte aus, dass sie durch einen einzigen Schuss in die Brust, der ihr ins Herz gedrungen war, den Tod gefunden hatte. Über der Identität der Frau lag der Schleier des Geheimnisses, obwohl ihr Haar und die Kleidung darauf schließen ließen, dass sie nicht zum arbeitenden Teil der Bevölkerung gehörte; sie trug immer noch den schlichten goldenen Ehering, was darauf verweisen könnte, dass nicht Raub das Motiv für die Tat gewesen war. Die Tatsache, dass jegliche Hinweise auf ihre Identität von ihrem Körper entfernt worden waren, stürzte den Untersuchungsrichter sichtlich in Verwirrung. Jude blätterte durch die Seiten der nächsten Wochen, hoffte darauf, dass der Fall noch einmal erwähnt würde, fand aber nichts. Trotzdem war sie beunruhigt. Mit beiden Artikeln kehrte sie in das Büro zurück, in dem die Fotokopien angefertigt wurden.
Jude saß wieder an ihrem Platz bei »Beecham’s« und kümmerte sich um die letzten Korrekturen an ihrem Artikel für das Magazin, als Inigo, der schweigend an seinem Computer gearbeitet hatte, sagte: »Mir ist eingefallen, wo ich die Halskette schon mal gesehen habe.«
38. Kapitel
Madingsfield Hall, Lincolnshire, ist der Sitz des Earls of Madingsfield, einer ungebrochenen Linie, seit Sir Thomas Madingsfield Elizabeth I. mit solcher Freigebigkeit bewirtet hat, dass es ihn beinahe in den Bankrott getrieben hätte. Als Entschädigung gewährte sie ihm den lang ersehnten Ritterschlag. Außerdem betraute sie ihn mit dem Amt eines Gentleman Usher am königlichen Hofe, der Zutritt zu den Privatgemächern des Herrscherin besaß und die übrige Dienerschaft beaufsichtigte.
Jude las in dem Handbuch, das Inigo ihr geliehen hatte.
»James ist der fünfzehnte Lord M.« Inigo versorgte sie immer noch mit Informationen, als er mit ihr nach Madingsfield Hall fuhr. Er war kein guter Fahrer. Durch das Kissen, das er sich in den Rücken gestopft hatte, saß er viel zu nah vor dem Lenkrad seines kleinen schwarzen Wagens, und so schlängelte er sich im Zickzack zwischen den anderen Wagen die Straße entlang, als befänden sie sich im Autoscooter. »Er war der jüngere Sohn. Ein kluges Kerlchen. Eton, Prädikatsexamen in Neuerer Geschichte in Oxford, bei der City – ja, sogar bei der Baring-Bank, bevor die pleitegegangen ist. In den Achtzigerjahren hat er den großen Reibach gemacht, dann aber, als sein älterer Bruder an einem Weihnachtstag vom Pferd gestürzt war, erbte er Madingsfield Hall. Die Finanzen waren eine Katastrophe. Das Beste, was er tun konnte, war, das Anwesen in eine Touristenattraktion und einen Ort für Kunstfestivals zu verwandeln.«
Lord Madingsfield war auch als Sammler berühmt geworden und galt als gewitzter Kunst- und Antiquitätenhändler. Trotz der Enttäuschung, die Inigo kürzlich erlebt hatte, gehörte er weiterhin zu den Leuten, die von »Beecham’s« umworben wurden, selbst wenn er sich aalglatt gab. Und Madingsfield seinerseits brauchte »Beecham’s«.
Daher war er die Freundlichkeit in Person gewesen und hatte einen Nachmittag gleich zu Anfang nächster Woche vorgeschlagen, als Inigo ihn angerufen und gefragt hatte, ob er mit einer Kollegin vorbeikommen dürfe, die sich wegen einer Forschungsarbeit einige Gemälde ansehen wolle.
Sie waren angekommen und parkten den Wagen auf dem großen Touristenparkplatz. Aber anstatt sich in die
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