Die Karte Des Himmels
in den Händen.
»Vermutlich war sie auf dem Weg zu einem Hafen. Nach Great Yarmouth vielleicht?«
»Aber wäre das wirklich die direkteste Route nach Frankreich gewesen?«
»Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wer ihr Geliebter war oder wohin sie gehen wollten. Wir können nicht unterstellen, dass es Frankreich gewesen ist. Vielleicht auch die Niederlande. Falls Sie daran interessiert sind, kann ich Ihnen Kopien von ein oder zwei Briefen aus der Zeit zeigen, die ich für einen Katalog unserer Gemälde zurate gezogen habe. Die Menschen erkundigen sich oft nach Lucille. Aber ich befürchte, dass Sie darin nur wenig Bedeutendes finden werden.«
»Ich denke, ich muss mir die Briefe auf jeden Fall anschauen«, sagte Jude, »schon weil ich gründlich recherchieren will.«
»Und während Sie damit beschäftigt sind, könnte ich Inigo etwas zeigen, was ihn vielleicht interessiert.« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Lord Madingsfields Lippen.
»Natürlich«, sagte Inigo, der plötzlich wieder munter wurde.
O Gott, dachte Jude, hoffentlich wickelt der verschlagene alte Fuchs Inigo nicht wieder um den Finger. »Pass auf!«, formte sie auf dem Weg nach unten lautlos mit dem Mund, und er gab mit einem Nicken zu verstehen, dass er verstanden hatte.
Die Briefe, die Lord Madingsfield erwähnt hatte, befanden sich in einem Ordner mit Korrespondenzen aus der Epoche. Jude saß in einem klimatisierten Archivzimmer im Untergeschoss, wo der Earl sämtliche Papiere aufbewahrte, die mit dem Anwesen zu tun hatten – obwohl die meisten der Madingsfield-Papiere sich inzwischen in den Archiven in Cambridge befanden, wie er erklärte. Sie blätterte die Sichthüllen um, bis sie zu den fraglichen Briefen gelangte. Beide datierten von 1764, stammten von der Gräfin von Madingsfield, Lucilles Schwiegermutter, und waren an ihren Sohn gerichtet, den Viscount, der sich offenbar geschäftlich in London aufhielt. Es kostete Jude ein wenig Mühe, sich an die Handschrift zu gewöhnen, die noch verschnörkelter war als Esthers. Der erste Brief handelte überwiegend von der schwachen Gesundheit des alten Earls, gesellschaftlichen Ereignissen und den Angelegenheiten des Anwesens, bis sie unten auf der zweiten Seite angekommen war:
Ich habe Lucille unseren Beschluss überbracht, dass sie das Haus unter keinem Vorwand verlassen darf, welcher auch immer es sein möge. Sie hat die Nachricht ruhig aufgefasst und den größten Teil der Woche tatsächlich in ihren Räumlichkeiten verbracht; nur nachmittags ist sie im Garten spazieren gegangen, sofern das Wetter es gestattete.
Der zweite Brief stammte vom Monat darauf und bezog sich auf irgendeine »neue Medikation«, die Lucille verschrieben worden sei und »heilsame Wirkungen zu zeitigen scheint. Sie ist ruhiger und fügsamer.«
Als ob sie ein Pferd gewesen wäre, wie Jude empört dachte. Falls es wegen Lucilles Verschwinden ein Jahr später eine Korrespondenz gegeben hatte, musste sie entweder verloren gegangen sein oder in Cambridge lagern, denn aus dieser Zeit fanden sich keine weiteren Briefe in dem Ordner.
Jude lehnte sich auf dem Stuhl zurück und tippte sich nachdenklich mit dem Stift an die Lippen. Lucille musste sehr unglücklich gewesen sein: beschränkt auf dieses riesige Palastgefängnis, wo ihr weiß der Himmel was für eine Substanz verabreicht worden war. Die beiden kleinen Töchter wurden überhaupt nicht erwähnt. Sie sollte also nach einem Familienstammbaum fragen, nur für den Fall, dass er die Namen verzeichnete. Jude klingelte mit der Glocke am Tresen im Empfangsbüro, durch das sie mit Inigo das Haus betreten hatte, und die Frau führte sie in einen weiteren Raum mit Akten, in dem eine riesige gerahmte Karte an der Wand hing. Zusammen suchten sie den neunten Earl und seine Ehefrauen, Lucille und Hester, Mutter von Söhnen; aber auf der Linie der Abkömmlinge von Lucille hieß es nur: »Zwei Töchter, im Kindesalter verstorben.«
»Oh, sie haben noch nicht einmal Namen«, sagte Jude und war ziemlich schockiert über die Unterstellung, dass die Kinder gestorben waren. Es war, als wären sie aus der Geschichte ausradiert worden.
»Sie hießen Amelie und Geneviève.« Jude fuhr zusammen, als die Stimme des Earls an ihr Ohr drang. »Mein Ahnenforscher hat die Register der Pfarrei durchgesehen und ihre Taufeinträge entdeckt.«
»Er muss sie sehr geliebt haben, dass er ihr erlaubt hat, den Kindern französische Namen zu geben«, sagte Jude und erläuterte, was sie in den Briefen
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