Die Karte Des Himmels
Schlange vor dem Tickethäuschen einzureihen, durchquerten sie einen Hof mit Stallungen, dann einen zweiten und gelangten an eine Tür mit der Aufschrift »Privat« – die Verwaltungsbüros der Ländereien der Madingsfields. Von dort aus führte die Empfangsdame sie über den Flur eine Treppe hinauf in ein großes, elegant eingerichtetes Empfangszimmer, das Lord Madingsfield als Büro nutzte. Madingsfield selbst war eine kleine, gepflegte Erscheinung in einem milchkaffeebraunen Anzug und mit einer gebogenen Nase in dem klugen, lebhaften Gesicht. Er saß am Schreibtisch, als sie hereingeführt wurden, erhob sich sofort und schüttelte ihnen die Hand. Es ist zwar ein Klischee, dachte Jude, als sie den Griff seiner Finger spürte, aber der Mann strahlt wirklich Macht aus und eine Art quecksilbrige Energie.
Sie breitete die Halskette mit den Sternen auf dem Tisch aus und erzählte kurz ihre Geschichte.
Er betrachtete den Schmuck, schaute sie anschließend an und lächelte sie breit an. »Ich glaube, Sie haben gerade ein großes Rätsel meiner Familie gelöst«, sagte er herzlich. »Wie schön, dass Sie hergekommen sind!«
»Wer war sie?«, fragte Jude.
Sie standen vor einem Gemälde, einem Porträt, das in chronologischer Folge zwischen andere Familienbildnisse in einer mahagonigetäfelten Bibliothek aufgehängt war, die sich über die gesamte Breite des Hauses erstreckte. Es handelte sich um das Ganzkörperbild einer jungen Frau in der Kleidung des achtzehnten Jahrhunderts. Die Frau war hübsch, sehr hübsch, mit blondem Haar, das ihr über den Rücken floss, einem rosa und weißen Teint und riesigen, weichen und gefühlvoll dreinblickenden braunen Augen. Das Mieder war tief ausgeschnitten, und um den Hals trug sie eine Kette mit Sternen – exakt die Halskette, die Jude in der Hand hielt.
»›Die Lady mit der Sternenkette.‹ Ihr Name war Lucille. Lucille de Fougères«, erklärte Lord Madingsfield, »aber in der Familie spricht man nur über sie als la fugitive – französisch für Ausreißerin. Bestimmt wissen Sie den Witz zu würdigen.«
Inigo lächelte höflich, aber Jude starrte auf das Gemälde, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Unendlich viele Mosaiksteinchen fielen an ihren Platz.
»Ich nehme an, dass sie Französin war?«
»Très française, wie ich vermute. Viscount St. John, der spätere neunte Earl, ist ihr auf seiner Kavalierstour irgendwann in den 1750er-Jahren begegnet, das genaue Datum habe ich vergessen. Er war es, der die Halskette in Auftrag gegeben und ihr als Verlobungsgeschenk überreicht hat. 1759 haben sie geheiratet, aber 1765, ein paar Jahre nachdem dieses Gemälde angefertigt worden war, verschwand sie mit ihren beiden kleinen Töchtern. Man erzählte sich, dass sie vor ihrer Hochzeit einen Liebhaber gehabt hatte und das Paar immer noch in Leidenschaft verbunden und durchgebrannt sei. Natürlich hat die Familie nach ihr suchen lassen. Obwohl ich mich frage, wie gründlich diese Suche wohl gewesen sein mag, denn der Skandal wäre entsetzlich gewesen. Aber man hat nie wieder eine Spur von ihnen gefunden. Als sieben Jahre verstrichen waren, hat das Gericht sie für tot erklärt, und St. John, der inzwischen in den Stand des Earls erhoben worden war, heiratete seine heimliche Geliebte, eine Hester Symmonds. Schauen Sie, hier haben wir sie, verkleidet für eine Maskerade. Ein netter kleiner Flirt, habe ich immer gedacht. Was für ein Nest voller Singvögelchen, alle miteinander.« Lord Madingsfield sieht eher so aus, als wolle er mit seiner Familie Nachsicht walten lassen, dachte Jude, aber insgeheim war sie mit den Gedanken schon ganz woanders.
Wie merkwürdig! Zwei kleine Mädchen. Nicht nur eines. Wenn eine der beiden Esther gewesen ist -und falls das stimmte, wie hat es passieren können, dass sie auf einer schlammigen Straße mitten in Norfolk endete – was war dann mit dem anderen Mädchen? War Lucille mit ihr entkommen? Wohin um alles in der Welt waren sie gegangen? Vielleicht zurück nach Frankreich. Und wie hatte es geschehen können, dass das Kind, das Esther war, verloren ging? Zu viele unbeantwortete Fragen. Nur eins konnten sie mit Sicherheit sagen, nämlich dass es nun eine unabweisbare Vermutung gab, wessen Kind Esther gewesen sein könnte.
»Warum hätte Lucille in den Norden von Norfolk gehen sollen?«, fragte sie und erinnerte sich plötzlich an die nicht identifizierte tote Frau. Wer war diese Frau? Vielleicht hielt Jude noch ein Puzzlestück
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