Die Karte Des Himmels
Holzstab einpasste, auf dessen Spitze eine große Glühlampe saß. Dann hockte er sich hin, und Jude beobachtete irritiert, wie er die Innenwände der Box mit drei oder vier Eierkartons auskleidete.
»Und wofür ist das?«, fragte sie.
»Die Falter werden eine Weile um das Licht flattern. Und dann mögen sie es, sich nahe der Lichtquelle im Schatten zu verstecken, ohne etwas zu berühren. Die Eierkartons eignen sich perfekt dazu. Vielleicht sind Falter wie Menschen«, sagte er. »Sie haben Angst, sich zu verbrennen.«
»Verstehe«, sagte sie leise.
Er lächelte sie an. »Ich weiß«, sagte er. »Kannst du mir die zwei Platten Plexiglas aus der Tasche da drüben raussuchen?« Sie kramte in der Tasche herum, reichte ihm die Platten, die er oben an der Box auf beiden Seiten der Glühlampe befestigte, sodass sie als Deckel fungierten, den Faltern aber einen Spalt ließen, um nach unten in die Box zu gelangen.
»Das ist eine Quecksilberdampflampe«, erklärte Euan, »ihr Licht ist sehr, sehr hell. Viel heller, als unsere Augen es verkraften können. Aber die Falter mögen das blaue Ende am Lichtspektrum. Wir wissen nicht genau, warum sie vom Licht angezogen werden, aber wir nehmen an, dass sie den Mond und die Sterne zur Orientierung nutzen. Es sind ihre Navigationsinstrumente. Und los geht’s.« Als er das Anschlusskabel der Lampe mit der Batterie verband und anschaltete, glühte die Lampe zuerst pink und schließlich blau-weiß, so grell, dass sie sich abwenden musste.
»Jetzt brauchen wir nur noch ein bisschen herumzulungern und auf die Falter zu warten.« Mit einer Laterne in der Hand kam Euan auf sie zu. »Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen? Nachts im Wald ist es wunderschön.«
Nun wurde es allmählich richtig dunkel. Schaurig, dachte sie, die Silhouette der Bäume in diesem fremdartigen weißen Licht zu sehen. Er hielt ihr die Hand hin, und es war ganz natürlich, dass sie sie nahm.
»Können wir oben auf den Turm steigen?«, fragte sie.
»Wenn du willst«, erwiderte er überrascht.
Sie gingen die Treppe hinauf in das kleine Zimmer. Seit dem Tag, an dem sie Summer vermisst hatten, war Jude nicht mehr hier oben gewesen. Den Raum fand sie so vor, wie er gewesen war, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte – Euans Papiere lagen ausgebreitet auf dem Tisch. Es fühlte sich ruhig und friedlich an.
»Können wir nach oben aufs Dach?«, fragte Jude.
»Sicher«, erwiderte er, kletterte die Leiter hinauf und stieß die Luke auf und half ihr, als sie ihm folgte. Als sie sicher oben war, knipste er die Laterne aus, sodass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
Jude stand nahe neben ihm, ohne sich an ihn zu lehnen. Sie hatte keine Angst mehr, sich so weit oben aufzuhalten und den Blick über den dunklen Wald schweifen zu lassen. Sie konnte gerade noch die obere Hälfte von Starbrough Hall erspähen. Hier und da schimmerte ein Licht. Das sanfte Nachtlicht – das muss das Kinderzimmer sein, dachte sie und stellte sich vor, dass es sich bei dem Schatten, der sich vor dem Fenster bewegte, um Alexia handelte, die Max und Georgie ins Bett brachte, ihr Spielzeug wegräumte oder ihre Sachen faltete. Zwischen den Wolkenfähnchen am dunkelblauen Himmel über ihr leuchteten ein paar Sterne auf.
Und die ganze Zeit über war ihr bewusst, dass Euan neben ihr stand und wartete.
»Ich musste hier raufsteigen«, sagte sie, »um herauszufinden, wie es jetzt ist.«
»Und wie ist es jetzt?« Jude konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht erkennen, hörte aber an seinem Tonfall, dass sich hinter der Frage mehr verbarg als das Offensichtliche.
»Es fühlt sich friedlich an. Ich kann es nicht genau ausmachen.«
»Du hast keine Albträume mehr?«, fragte er wie beiläufig.
»Nein. Claire sagt, dass Summer auch keine mehr hat.«
»Das ist gut.« Aber sie hatte Claire erwähnt, und das stand zwischen ihnen.
»Du weißt, dass es mir nie um Claire ging«, sagte er leise.
»Jetzt weiß ich es«, erwiderte sie.
»Hätte sie was dagegen, wenn ...«, murmelte er. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ...«
»Willst du wissen, ob ich mich zurückziehe, falls es ihre Gefühle verletzt? Meinst du das?«
»Du hast dich immer so um ihre Gefühle gesorgt.«
Jude war überrascht, dass er nicht bemerkt hatte, wie sehr sich ihre Einstellung zu Claire in den vergangenen Wochen verändert hatte. Aber wenn du es ihm nicht erzählst, wie soll er es auch merken, du Dummkopf?, schimpfte sie in sich hinein. Wie auch
Weitere Kostenlose Bücher