Die Karte Des Himmels
unter dem uralten Sternenhimmel drehte.
In dieser Nacht blieb sie bei Euan. Nicht dass sie viel geschlafen hätten.
Am nächsten Morgen fuhren sie zu dem Archivzentrum in Norwich, um herauszufinden, was mit Amelie Madingsfield geschehen war, aus der erst Esther Wickham geworden war, und dann ... da hatten sie es schon auf dem Mikrofiche. Stella Brundall, geborene Esther Wickham, die am 10. März 1815 auf dem Friedhof in Starbrough beerdigt worden war. Außer dem Namen fanden sie nichts.
»Weißt du, was mir wieder eingefallen ist?«, fragte Jude Euan, als sie gemeinsam in seiner neuen Küche zu Abend aßen. »Da war doch dieser Atlas des Sternenhimmels in der Starbrough-Sammlung. Vielleicht kannst du dich nicht an ihn erinnern, aber er enthält Bilder von Sternzeichen. Die Deckenbemalung in der Bibliothek von Starbrough Hall wurde danach gestaltet.«
»Nein, erinnern kann ich mich nicht, aber du hast mir davon erzählt.«
»Da ist eine Sache, die ich nicht verstehe.«
»Nur eine? Sieht eher danach aus, als hätten wir noch viele Rätsel zu lösen.«
»Ja, nicht wahr?« Jude beugte sich vor und zerzauste ihm das Haar, bis er sie zu sich zog und küsste. Als sie wieder zu Atem gekommen war, fuhr sie fort. »Also, das Rätsel ist diese handschriftliche Widmung vorn im Buch. Da steht: ›Für AW von SB‹. Ich dachte, AW wäre Anthony Wickham. Aber angenommen, es wäre Augustus Wickham – Chantal hat gesagt, dass Augustus seinen Nachnamen in Wickham geändert hat – und SB wäre Stella Brundall?«
»Was? Du meinst, dass sie Freunde geworden sind, nach all dem, was geschehen war?«
»Beweisen können wir das natürlich nicht. Es ist eine Spinnerei.«
»Ein Luftschloss.«
»Nur Unsinn ...«
»Aber eine gute Hypothese.«
In dieser Nacht weilte Jude zwischen Wachen und Schlafen in jenem verwunschenen Land und versuchte sich vorzustellen, wie es hätte passiert sein können.
Eines Tages begegneten sie sich wieder, genau wie sie es immer vorausgesehen hatte.
In der ersten Zeit nach der Eheschließung hatte sie zurückgezogen in ihrem Cottage in Felbarton gelebt und neugierige Blicke gemieden, aber nachdem die Jahre ins Land gegangen und ihre Angst vor Entdeckung verblasst war, häuften sich die Gelegenheiten, wo eine Besorgung oder eine gesellschaftliche Einladung sie in die Nähe von Starbrough Hall führten.
Einmal, als sie in einer Kutsche vorbeifuhr, lehnte sie sich nach vorn und ließ den Blick über die wunderschönen Konturen des Gebäudes schweifen, so neugierig wie jemand, der lange begrabene Gefühle wieder erwecken will, indem er das Gesicht eines früheren Geliebten mustert. Sie hoffte darauf, einen Bewohner zu erblicken – Susan vielleicht, die sich aus dem Fenster lehnte und den Staublappen ausschüttelte oder Sam, der den Rasen stutzte – doch vergeblich. Die Kutsche rollte vorbei, und sie fühlte sich trostlos.
Und dann, an Pfingsten, fast neuneinhalb Jahre nach Anthonys Tod, als sie nach einem Abend bei Hughs Vater nach Hause zurückkehrte, kamen sie an der Kirche von Starbrough vorbei. Das Gespann musste langsamer fahren, weil der Gottesdienst zu Ende war und die Menschen auf die Straße strömten. Hugh stupste sie an und deutete auf eine ernst dreinblickende junge Frau mit himmelblauem Umhang und dunkelblauen Locken, die ihr unter der Haube hervorlugten. Die Lady scheuchte zwei sich balgende kleine Jungen in Richtung der wartenden Kutsche. »Das ist Mistress Wickham«, flüsterte er. Und dann tauchte Augustus aus der Menge auf, um sich seiner Frau anzuschließen. Obwohl er nicht mehr der schüchterne, magere Junge war, an den sie sich erinnerte, sondern ein dünner, unbeholfener Mann mit benommener Miene, erkannte sie ihn sofort. Das Gespann ruckte wieder an, und die Szene verschwand. Aber aufs Neue begannen beunruhigende Bilder sie bis in den Schlaf zu verfolgen.
Ein weiteres Jahr verging. Ein prächtiger Sommernachmittag kam, an dem sie mit ihren zwei kleinen Töchtern und deren Amme Molly über die Wiese spazierte, um Hughs verheiratete Schwester in Holt zu besuchen. Wo der Fußweg am Wald entlangführte, sah sie einen Mann näher kommen, einen Mann mit gesenktem Kopf und verträumtem Schritt, und als er noch näher kam, sah sie, dass er ein Buch las. Beinahe wären sie aneinander vorbeigegangen, ohne sich wahrzunehmen, so tief war er in sein Buch versunken, aber dann erkannte sie ihn. Und beinahe hätte sie die Gelegenheit verstreichen lassen, aber dann konnte sie es doch nicht
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