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Die Karte Des Himmels

Die Karte Des Himmels

Titel: Die Karte Des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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zahllose Feriengäste in dem Küstendorf Blakeney. Aber wenn Gran ihr Hörgerät abnahm, verebbten die Geräusche der Leute und der Autos mit Bootsanhängern vor dem Fenster, das auf den kleinen Hafen von Norfolk hinausging, zu einem sanften Gemurmel im Hintergrund. In ihrem schläfrigen Zustand kam es ihr vor, als tanzten Bilder der Vergangenheit über ihre Lider. Auch wenn sie inzwischen fast taub war – in ihrer Erinnerung sprudelten die Stimmen aus längst vergangenen Zeiten und lautes glückliches Gelächter frisch wie Quellwasser.
    Sie stellte sich vor, wieder ein Kind zu sein, die kleine Jessie, die am Waldrand Verstecken spielte. Darin war sie gut gewesen, konnte in Windeseile einen Baum hochklettern und sich in der Krümmung eines Astes zusammenkauern, so schmal und reglos wie ein brauner Vogel, dass die anderen Kinder sie nie fanden. Einmal aber hatte sie sich zu weit vorgewagt, bis tief in den Wald hinein, noch an Starbrough Folly vorbei. Dabei hatte ihr Vater ihr verboten, in die Nähe des Turmes zu kommen, weil kleine Mädchen sich verlaufen konnten oder vielleicht noch etwas Schlimmeres passierte. Das war der Tag gewesen, an dem sie es zum ersten Mal gesehen hatte – das wilde Mädchen. Sie hatte es gespürt, bevor sie es sah. Ein prickelndes Gefühl sagte ihr, dass sie beobachtet wurde. Sie hielt erstarrt inne und lauschte, während ihr Geist aus den Schatten der großen Bäume und den Bewegungen der Blätter und Zweige über ihrem Kopf bedrohliche Gestalten formte. Und auf einmal blitzte es zwischen den am niedrigsten hängenden Zweigen einer ausladenden Eiche silbrig auf. »Ich kann dich sehen«, stieß Jessie atemlos hervor. Und einen Augenblick später rutschte das Waldgeschöpf aus seinem Versteck herunter. Es war ein Mädchen etwa in ihrem Alter, acht, und zuerst fühlte Jessie sich an ein Bild aus dem Schulbuch mit den Geschichten erinnert. In dem fadenscheinigen braunen Kittelkleid und den Blättern, die sich in seinem Haar verfangen hatten, sah das Kind aus wie eine märchenhafte Blumenelfe. »Hallo«, sagte Jessie, »warum beobachtest du mich?« Aber das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. »Kannst du nicht sprechen? Warum kannst du nicht sprechen?«, wisperte Jessie. Das Kind legte die Finger auf die Lippen und sagte: »Pst! Das ist ein Geheimnis.« Dann riss es die Augen belustigt auf und winkte Jessie heran. »Wohin gehen wir?«, fragte Jessie, als das Mädchen noch tiefer in den Wald eintauchte. »Ich muss zurück. Ich darf nicht ...« Die Elfe schüttelte den Kopf und duckte sich unter einem abgestorbenen Ast hinweg. Jessie folgte ihr und entdeckte ein paar kleine rosafarbene Blumen. »Eine Orchidee!«, rief sie. Sie hatte sie sofort erkannt, denn ihr Vater hatte einmal eine wilde Orchidee mit nach Hause gebracht, die er unterwegs gefunden hatte, als er die Fallen überprüfte. Die Elfe bückte sich, pflückte die Blume und reichte sie Jessie. »Wie schön!«, sagte Jessie, und die Mädchen lächelten einander verschwörerisch an ...
    Langsam kehrte Gran in den Wachzustand zurück, nahm entfernt das Klingeln wahr und fummelte auf dem Weg zum Telefon an ihrem Hörgerät herum.
    »Judith!« Sie würde nicht zugeben, dass Jude ihr liebstes Enkelkind war, obwohl sie ihr gegenüber eine Nähe empfand, die sie bei Claire nie so recht gefühlt hatte, bei der lieben kleinen, widerspenstigen Claire.
    »Gran, ich fahre nächsten Freitag nach Starbrough Hall. Kann ich am Donnerstagabend zu dir kommen?«, fragte Jude. »Ich würde dich gern ein bisschen über den Ort ausfragen.«
    »Starbrough?« Jude konnte Jessies Überraschung an ihrer Stimme erkennen, aber die alte Lady erwiderte nur: »Es wäre wundervoll, dich zu sehen, Liebes. Kommst du zum Tee?«
    Als sie den Hörer aufgelegt hatte, lehnte sich Jessie, überschwemmt von einer Flut von Erinnerungen, an die Anrichte. Starbrough Hall. In letzter Zeit hatte sie sehr oft an das wilde Mädchen gedacht. Eigentlich war ihr Geist nichts anderes mehr als eine alte Filmspule, die nach dem Zufallsprinzip Szenen aus der Vergangenheit darbot. Und nun würde ihre Enkeltochter dorthin gehen. Aus welchem Grund? Das hatte sie nicht gesagt. Starbrough ... vielleicht bekam sie jetzt die Gelegenheit, alles wieder in Ordnung zu bringen.
    Später am Nachmittag, nach mehreren ärgerlichen Stunden, in denen die Telefone fast nicht stillgestanden hatten, und einem kleinlichen Streit mit Inigo über die Erstausgaben von Bloomsbury beendete Jude ihre Arbeit an dem

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