Die Kastratin
wegen des schlechten Zustands ihrer Mutter, doch ihre Hilflosigkeit und die Tatsache, dass der Vater sich fast den ganzen Tag im Kloster aufhielt, schenkten ihr eine ungewohnt friedliche Zeit ohne Schimpfen, Ärger und Streit. So fiel es ihr leicht, ihre Pflichten im Haushalt zu erledigen und Assumpta bei der Pflege der kranken Mutter zu unterstützen. Zum Singen war ihr jedoch nicht zumute, wenngleich sie die Proben des Chors schmerzlich vermisste.
VI .
M aria Fassi ging es immer schlechter. Sie wälzte sich in wirren Fieberträumen und schrie oft so laut, dass die Nachbarinnen gelaufen kamen. Während ihrer wachen Stunden rief sie laut jammernd nach ihrem Mann, um ihn sofort wieder mit wilden Anschuldigungen zu überfallen. Es wurde so schlimm, dass Girolamo Fassi es nicht mehr zu Hause aushielt. Dabei war es weniger die Schuld seiner Frau, dass er keinen Schlaf mehr fand, als die Furcht vor dem, was mit ihm passieren mochte, wenn die Aufführung der Palestrina-Messe den Abt und den Grafen nicht zufrieden stellte. Schließlich bat er Pater Lorenzo, ihm eine unbenützte Zelle im Kloster zur Verfügung zu stellen, in der er bis zum Festtag wohnen wollte.
Seine ganze Sorge galt jetzt dem Chor, und bald sehnte er dessen große Stunde ebenso sehr herbei, wie er sich vor der Rückkehr des Grafen fürchtete. Dessen Verwalter hatte ihm mitgeteilt, dass er nicht mehr für die musikalische Unterhaltung der Gäste während ihres Aufenthalts in der Burg verantwortlich war. Gisiberto Corrabialli hatte in Rom einen neuen Kapellmeister in seine Dienste genommen und diesem die Leitung der Lustbarkeiten übertragen.
Für Fassi hatte damit sein schlimmster Albtraum Gestalt angenommen, denn von diesem Tag an gehörte er auch offiziell nicht mehr zu dem engeren Gefolge des Grafen, sondern war nur noch einer von dessen vielen kleinen Angestellten, die froh sein durften, wenn sie genug Lohn erhielten, um überleben zu können. Ein paar Tage lang klammerte er sich noch an die Hoffnung, ein Erfolg der Palestrina-Messe würde den Grafen dazu bringen, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen und ihm einen anderen, gut dotierten Posten zu geben. Doch dann zeichnete sich das nächste Verhängnis am Horizont ab.
Der Chor war mittlerweile so gut einstudiert, wie es bei den Fähigkeiten der Knaben möglich war. Ludovico jedoch machte ihnen von Tag zu Tag mehr Sorgen. Der Junge schien allmählich jedes Gefühl für die Musik zu verlieren. Waren es zuerst nur Nuancen, die Girolamo Fassi und Pater Lorenzo gestört hatten, wurde es nun von Probe zu Probe schlimmer. Zuletzt lag der Junge bis zu einer halben Oktave neben dem geforderten Ton.
Angesichts des nahenden Festes vermehrten sich auch Pater Lorenzos Sorgenfalten. Schon trafen die ersten Gäste auf der Burg ein, und Graf Gisibertos Ankunft war für einen der nächsten Tage angekündigt. Am Abend vor seiner Ankunft hatten Pater Lorenzo und Girolamo Fassi die Chorknaben früh zu Bett geschickt und saßen im leeren Probenraum bei einem Glas Wein zusammen. Verzweifelt versuchten sie, einen Ausweg zu finden, um dem drohenden Unheil zu entgehen.
Pater Lorenzo hatte den Kopf auf die Hände gestützt, so als hätte sein Hals keine Kraft mehr, ihn zu tragen. »Ich wage es kaum zu sagen, doch wie es aussieht, kommt Ludovico zur Unzeit in den Stimmbruch.«
Fassi nickte mit düsterer Miene. »Es war ein Fehler, keinen zweiten Chorknaben als Sänger des Soloparts auszubilden. Vielleicht kann Luca in den verbleibenden Tagen den Solopart lernen.«
»Nein, nicht Luca. Sein Stimmumfang reicht einfach nicht aus. Ich habe eher an Ambrogio gedacht. Er ist der Einzige, dessen Stimme an die von Ludovico heranreicht.«
Fassi winkte entmutigt ab. »Dafür braucht er von allen Chorknaben am längsten, sich einen Text einzuprägen. Ich bezweifle, dass er in der verbleibenden Zeit in der Lage ist, auch nur die Hälfte seines Parts zu lernen.«
Pater Lorenzo stimmte ihm bedrückt zu. »Es ist zum Verzweifeln. Keiner der Knaben hat das Talent, Ludovicos Aufgabe zu übernehmen. Wir können nur hoffen, dass sich seine Stimme bis zum Festtag wieder bessert. Ich mag mir erst gar nicht vorstellen, was geschieht, wenn wir ausgerechnet mit einer Messe scheitern, die Meister Giovanni da Palestrina extra für unser Kloster geschrieben hat.«
Fassi stieß einen Jammerlaut aus, wie ihn selbst seine Frau nicht über die Lippen gebracht hätte. »Graf Gisiberto wird mich zum Krüppel peitschen und davonjagen wie einen räudigen
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