Die Kastratin
Stelle die Messe singen«, erklärte der Pater ihr übergangslos. »Er ist in den Stimmbruch geraten. Außerdem habe ich ihn …, aber das geht dich nichts an.«
Giulia starrte ihn ungläubig an. »Was soll ich? Pater, bitte, macht Euch nicht noch über mich lustig.«
Der Pater sah sie ernst, ja fast traurig an. »Mir ist nicht zum Spaßen zumute, mein Kind. Du musst den Solopart der Messe singen. Natürlich wirst du nicht als Mädchen auftreten, sondern in der Verkleidung eines Chorknaben. Wir werden dir das Haar abschneiden und dich so zurechtmachen, dass dich niemand erkennt.«
Giulia presste die Hände auf die Wangen. »Das geht nicht. Ludovico wird mich erkennen, denn er hat mich schon singen gehört. Außerdem ist es einer Frau oder einem Mädchen bei Leibesstrafe verboten, in der Kirche zu singen. Dafür kommt man ins Feuer und dann in die Hölle.«
»Um Ludovico brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Der sitzt im Klosterkarzer und kommt bestimmt nicht vor dem Festtag frei. Und was die Sünde betrifft, bin ich gerne bereit, sie auf meine Schultern zu laden. Sie sind ja auch viel breiter als die deinen.« Der Pater lächelte dem Mädchen zu und streichelte ihr übers Haar. »Giulia, es ist wichtig, dass du für uns singst. Sonst kommt es zu einer Katastrophe, die mich mein Ansehen im Kloster und, was noch viel schlimmer ist, deinen Vater die Stellung beim Grafen kosten wird.«
Fassi nickte heftig und packte seine Tochter bei den Schultern. »Du musst tun, was der Pater sagt. Sonst verlieren wir das Haus und müssen als Bettler über die Landstraßen ziehen. Denk doch an deine kranke Mutter. Wir hätten kein Geld mehr, um den Arzt zu bezahlen, und auch keines für Essen und ein Dach über dem Kopf.«
Giulia wand sich unter Fassis schmerzhaftem Griff. »Aber es geht nicht, Vater. Ich beherrsche den Solopart noch lange nicht vollständig. Bisher habe ich immer nur einzelne Passagen singen können, und ich konnte seit jenem Tag am Ölbaumhain die Jungen nicht mehr belauschen.«
Der Pater löste Fassis Hände und strich ihr über die tränennasse Wange. »Du wirst den Rest schon lernen, Giulia. Schließlich bist du ein kluges und braves Mädchen.«
Fassi schlug die Arme um sich, als friere er trotz der schwülen Hitze. »Pater Lorenzo hat Recht. Du wirst es schaffen. Wir werden in der alten Zehntscheuer des Klosters üben. Das ist weit genug weg von der Stadt, so dass uns niemand hören kann. Wenn doch jemand vorbeikommt, sagen wir einfach, du seiest ein fremder Chorknabe, den Pater Lorenzo und ich heimlich als Ersatz für Ludovico ausbilden.«
Giulia hätte noch ein Dutzend Einwände bringen können, doch ihre Zunge war wie gelähmt. Gleichzeitig verspürte sie ein inneres Vibrieren. Wenn es wahr war, was der Pater sagte, wenn sie nicht gleich aufwachte und merkte, dass sie nur geträumt hatte, so war ihr größter Wunsch dabei, in Erfüllung zu gehen. Zumindest einmal würde sie vor allen Leuten die Lieder singen dürfen, die in ihrem Herzen schwangen. Das war ein Wunder, ein Geschenk des Himmels, welches sie wohl für den Rest ihres Lebens wunschlos glücklich machen würde. »Ich werde singen.« Sie senkte den Kopf um abzuwarten, ob der schöne Traum nun zu Ende war, riss ihn aber wieder hoch, als sie die Schere sah, die der Pater plötzlich in der Hand hielt. »Du musst ab sofort wie ein Junge aussehen«, sagte er und befahl ihr, sich vor ihm auf den Klappstuhl zu setzen, den ihr Vater hinter der Truhe hervorzog.
Als Giulia zögerte, fuhr ihr Vater sie leise, aber scharf an. »Stell dich nicht so an. Setz dich hin und halt still!«
Zitternd gehorchte sie und schloss die Augen, als die Schere gnadenlos durch ihre langen, dicht gelockten Haare fuhr. Eine halbe Stunde später war die Verwandlung komplett. Giulia steckte in einem Chorhemd, das der Pater mitgebracht hatte, und spürte ein kaltes Gefühl im Nacken. Als sie sich mit den Händen an den Kopf fuhr, stellte sie entsetzt fest, dass ihr Haar so kurz war, dass sie es gerade noch mit den Fingerspitzen fassen konnte.
Während Pater Lorenzo zufrieden sein Werk betrachtete, öffnete sich mit einem Mal die Türe und Maria Fassi stand auf der Schwelle. Sie war bleich wie der Tod, und ihre Augen glänzten fiebrig. Als sie Giulia sah, stieß sie einen gellenden Schrei aus. »Bei der Muttergottes! Girolamo, was hast du getan? Bist du jetzt völlig von Sinnen?«
»Maria, bitte, reg dich nicht auf«, flehte Fassi sie an. »Es ist alles in Ordnung,
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