Die Kastratin
Assumpta beruhigte sie und tat so, als müsse Vincenzo hinter der jeweils nächsten Biegung stehen und ihnen zuwinken. Doch sie legten Meile um Meile zurück, ohne eine Spur von ihm zu entdecken.
Als sie Verona erreichten, war Giulia kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Sie musste sich gewaltsam zusammenreißen, um mit dem raffgierigen Wirt zu verhandeln, eine nicht gerade einfache Sache, die Vincenzo ihr sonst immer abgenommen hatte. Als sie aber ihren Namen nannte, war der zunächst berufsmäßig ablehnende Wirt wie umgewandelt. »Ihr seid der Sänger Casamonte? Das ist ja wunderbar!«
Wortreich erklärte er ihr, dass die besten Zimmer, das beste Essen und der beste Wein für sie bereitständen. Danach winkte er einen jungen Knecht heran und befahl ihm, den Grafen zu informieren. »Welchen Grafen?«, fragte Giulia in der Erwartung, er würde Vincenzos Namen nennen. »Es handelt sich um einen ehrwürdigen älteren Herren, der erfahren hat, dass Ihr nach Verona kommt, und der mir auftrug, ihn sofort von Eurem Erscheinen in Kenntnis zu setzen«, berichtete der Wirt und zerstörte damit Giulias Hoffnung.
Enttäuscht winkte sie ab. »Ich bin müde und will bald zu Bett.«
»Bitte bleibt noch ein wenig. Ich lasse Euch einen stärkenden Krug Wein bringen. Der hohe Herr wird gleich kommen und wäre sehr enttäuscht, Euch nicht vorzufinden.« Der Wirt wartete Giulias Zustimmung gar nicht erst ab, sondern befahl einer Magd, das Mahl für Messer Casamonte aufzutragen. Das Mädchen knickste und sauste davon.
Giulia wollte zwar nichts von Essen wissen, doch Assumpta fasste sie resolut am Arm und schob sie vor sich her. »Du wirst jetzt eine Kleinigkeit zu dir nehmen, sonst klappst du mir noch zusammen. Oder willst du, dass ein Arzt an dir herumtastet?«
Daran hatte Giulia nicht gedacht. Sie war mit einer blühenden Gesundheit gesegnet und nie auf die Idee gekommen, irgendwann einmal selbst einen Arzt zu benötigen. Der würde sofort erkennen, dass er es mit einer Frau zu tun hatte. Zum ersten Mal begriff sie, wie gefährdet ihre Maske war. Tagtäglich konnte ihre Karriere als Kastratensänger ein unrühmliches Ende finden. Nein, sie durfte sich keine Schwäche erlauben, besonders jetzt nicht, wo der Kummer um Vincenzos Verschwinden sie innerlich zu zerfressen drohte.
Assumpta begleitete sie in das vorbereitete Speisezimmer und legte ihr eigenhändig vor. Giulia aß, ohne irgendetwas zu schmecken, und spülte alles mit einem leichten, mit Wasser vermischten Wein hinunter. Sie war noch nicht fertig, als der Wirt an die Tür klopfte und die Ankunft des Grafen meldete. Im nächsten Augenblick trat ein älterer Herr von Stand ein. Er trug ein nicht besonders modisches, silbergraues Wams und schlichte, schwarze Hosen aus bestem Stoff und erinnerte Giulia an jemand, ohne dass ihr einfiel, an wen. Sein schmales Gesicht wirkte bleich und angespannt, so als wäre er in großer Sorge. Trotzdem beachtete er die Gesetze der Höflichkeit mit einer fast lächerlichen Pedanterie. »Buon giorno, Messer Casamonte. Ich danke Euch, dass Ihr mich nach Eurer gewiss anstrengenden Reise sofort empfangen habt.«
Giulia schob den Teller zurück und wies Assumpta an, ihrem Gast ein Glas Wein zu reichen. »Der Wirt hat mich auf die Dringlichkeit Eures Besuchs hingewiesen.«
»Ich bin der Comte Biancavallo«, stellte sich der alte Herr vor. »Meine Schwester, die verstorbene Gräfinwitwe von Falena, hat in mehreren Briefen von Eurer Zauberstimme geschwärmt, die ihr in schweren Stunden sehr geholfen hat. Nun bitte ich Euch, mir zu helfen.«
»Zu meinem Bedauern wird dies nicht so rasch möglich sein. Ich wurde nämlich an die Abtei San Lassaro berufen, um dort zu singen.« Giulia hoffte, das Gespräch mit diesem Hinweis beenden zu können, ihr Besucher ließ sich jedoch nicht beirren. »Ja, ich weiß, aber das habe ich schon geregelt. Der ehrwürdige Herr Marcello Fibione, der Probst von San Lassaro, kennt mein Problem und war sofort bereit, Euch für die nächsten Wochen Urlaub zu gewähren. Hier ist sein Schreiben, das meine Worte bestätigen wird.«
Giulia sah auf das Pergament, das mit einem kunstvollen Siegel versehen war, und hob abwehrend die Hand. »Ich mag es nicht, wenn über meinen Kopf hinweg entschieden wird.«
Ihr Besucher rang in einer verzweifelten Geste die Hände. »Wenn Ihr erst gehört habt, wozu ich Eure Hilfe benötige, werdet Ihr Verständnis für meinen Schritt aufbringen, dessen bin ich mir sicher. Es geht um meine
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