Die Kastratin
zu und schien zu entscheiden, dass Vincenzo der interessantere der beiden Gäste war, denn sie schäkerte mit ihm, beugte sich vor, so dass er mühelos tief in ihren Ausschnitt sehen konnte, und tat auch sonst alles, um ihm wortlos klar zu machen, dass sie ihm auch in der Abgeschiedenheit seines Zimmers zu Diensten zu sein würde.
Giulia quittierte das schamlose Benehmen der Frau mit einer angeekelten Geste. Vincenzo bemerkte es und zog seine eigenen Schlüsse daraus. Lange Monate hatte er sich darauf beschränkt, der selbstlose Freund und Begleiter Giulio Casamontes zu sein und seine Sehnsucht nach mehr tief in seinem Innern begraben. Die warme, würzige Luft Italiens und der schwere Wein, der wie Öl durch die Kehle rann, machten es ihm schwer, sich weiterhin so zurückzuhalten. Giulios Reaktion konnte er sich nur mit Eifersucht erklären, und das ließ die mühsam hochgezogenen Mauern in seinem Innern bröckeln. Mit einem übermütigen Auflachen prostete er dem Kastraten zu und freute sich unbändig über das Lächeln, mit dem Giulio ihm antwortete. Es schien alle Verheißung der Welt zu enthalten. Da sie aber nicht alleine waren, bemühte er sich, während des Essens einfach nur ein angenehmer Gesprächspartner zu sein.
Etwas später saßen sie zu dritt auf der Veranda, blickten in den mit Sternen übersäten Himmel und genossen den besten Wein aus dem nahen Valpolicella. Beschwingt unterhielten sie sich über etliche angenehme Aspekte ihrer langen Reise. Sogar Assumpta zeigte einen Anflug guter Laune, zog sich jedoch als Erste zurück, um beim Aufbruch früh am nächsten Morgen wieder frisch zu sein. Da Giulia sich angewöhnt hatte, sich abends ohne fremde Hilfe auszukleiden, um die alte Dienerin zu entlasten, glaubte diese, sie könne ihre Herrin unbesorgt zurücklassen.
Keine Viertelstunde nach Assumpta drängte auch Vincenzo darauf, ins Bett zu gehen. Giulia hätte die wundervolle Stimmung dieser Nacht gern noch länger genossen, doch Vincenzo schickte die Magd weg, die ihnen leuchten wollte, und nahm die Lampe selbst zur Hand. Zu Giulias Verwunderung verabschiedete er sich nicht auf dem Korridor von ihr, sondern bat sie, einen Augenblick mit auf ihr Zimmer kommen zu dürfen. »Ich muss deine Lampe anzünden«, erklärte er lächelnd. In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der Giulia aufhorchen ließ. Am liebsten hätte sie ihn weggeschickt. Aber dann hätte sie die Magd rufen müssen und ihn damit beleidigt. So öffnete sie die Tür und trat beiseite, damit Vincenzo den Docht der von der Decke hängenden Öllampe mit seiner Flamme entzünden konnte. Als das Licht aufleuchtete, stellte er seine Lampe auf den Tisch, zog die Vorhänge zu und schloss die Tür von innen. »Endlich bin ich mit dir allein, Giulio. Darauf habe ich schon lange gewartet.« Er sah sie dabei so verlangend an, dass sie bereits dachte, er hätte ihr Versteckspiel durchschaut und wollte ihre Hingabe für sein Schweigen fordern. Aber er hatte sie Giulio genannt. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper sich abwehrend verkrampfte, und schluckte. »Wir waren schon oft allein, Vincenzo.«
»Ja, tagsüber in Frühstückszimmern oder Salons der Herbergen, wo jederzeit jemand hereinkommen konnte. Heute aber wird uns nicht einmal Assumpta stören. Diese Nacht gehört nur uns beiden.« In Vincenzos Augen glitzerte unverhohlene Gier. »Was willst du von mir?« Giulias Herz klopfte bis zum Hals, und sie fühlte Ärger in sich aufsteigen. Sie hasste es, so unvermittelt in eine kritische Situation zu geraten.
Plötzlich kniete er vor ihr nieder und fasste ihre Hände. »Giulio, ich liebe dich. Ich habe lange gegen dieses Gefühl angekämpft. Doch ich kann es nicht länger ertragen, einfach nur neben dir her zu leben. Ich sehne mich danach, dich zu berühren, deine sanfte Hand auf meiner Haut zu spüren und … und dich zu umarmen. Ich vergehe vor Sehnsucht nach dir, spürst du das denn nicht? Bitte, Giulio, weise mich nicht ab. Es kann doch nicht so schwer für dich sein, mir deine Zuneigung zu schenken!«
Giulia erstarrte. Für einen Augenblick hatte sie gehofft, Vincenzo hätte ihre Maske durchschaut, aber er meinte tatsächlich nicht sie, sondern das unnatürliche Wesen, das sie spielte – spielen musste. Sie wies mit dem Kinn auf die Tür. »Solltest du die Befriedigung deiner Bedürfnisse nicht besser bei der jungen Magd suchen, die dich heute Nachmittag angegurrt hat? Wie hieß sie gleich wieder? Ach ja, Filippa. Sie war doch ganz
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