Die Kastratin
schickte man nicht mit bösen Worten von seiner Schwelle. Außerdem brauchte sie dringend jemanden, dem sie vertrauen konnte. Es war abzusehen, wann Assumpta nicht mehr mit ihr kommen konnte. Das Reisen fiel der alten Frau jetzt schon sehr schwer.
Giulia ärgerte sich zwar immer noch, weil Vincenzo all die Jahre nur den Schein angesehen hatte und nie darauf gekommen war, dass sie eine Frau sein könnte. Andererseits war ihr klar, dass sie nun den ersten Schritt machen und ihm alles beichten musste. Kurz nach Mitternacht schob sie alle Ängste und Zweifel beiseite, schlich zu Vincenzos Tür und klopfte. Drinnen war alles still. Mit einem eigenartigen Gefühl in der Brust tastete sie nach der Klinke und drückte sie nieder. Die Tür war unverschlossen. Als sie ins Zimmer trat, standen die Vorhänge offen, und das Bett war unberührt. Im ersten Augenblick glaubte sie, Vincenzo hätte wirklich die Magd Filippa aufgesucht, um bei ihr die Entspannung zu finden, die ihm der Kastrat Casamonte versagt hatte. Die Eifersucht schlug wild über ihr zusammen, und sie musste an sich halten, um ihren Gefühlen nicht in einem wütenden Wortschwall Ausdruck zu verleihen.
Nach einer Weile wurde sie ruhiger und überlegte, was sie tun sollte. Sie starrte auf das leere Bett und schlüpfte hinein. Wenn Vincenzo zurückkam, sollte er die Wahrheit erfahren. Giulia war bereit, sich voll und ganz in seine Hände zu geben, ganz gleich, was er von ihr fordern mochte. Alles war besser, als ihn zu verlieren.
Am nächsten Morgen war Vincenzo noch immer nicht zurückgekehrt. Giulia hatte die schlimmste Nacht ihres Lebens durchlitten und fühlte sich müde, enttäuscht und innerlich wund. Sie hasste Vincenzo für das, was er ihr angetan hatte, und vermisste ihn gleichzeitig in einer Art und Weise, die kaum zu ertragen war. Als jemand die Tür öffnete, hoffte sie, er wäre es. Doch statt seiner kam Assumpta herein. Die Dienerin wirkte keineswegs überrascht, sie in Vincenzos Bett anzutreffen. »Hast du dich endlich entschlossen, deine Maske fallen zu lassen?« Ihre Stimme klang erleichtert, aber ihr Lächeln wirkte auf Giulia wie das Grinsen eines Totenkopfs.
Sie schluchzte auf. »Ich fürchte, ich habe alles kaputt gemacht. Vincenzo ist weg.«
Assumpta lachte ungläubig. »Vincenzo weg? Das glaube ich nicht. Nicht nachdem ich gesehen habe, wie er dich betrachtet hat, wenn er sich unbeobachtet glaubte.«
»Er war in den Kastraten verliebt, in Giulio Casamonte, nicht in mich.«
Assumpta wackelte mit dem Kopf. »Hast du ihn denn nicht eines Besseren belehrt?«
»Nein, ich habe eine große Dummheit begangen. Er sagte, es sei doch keine so große Sünde, wenn Männer es miteinander treiben, und ich bin sofort böse geworden, weil er mich wie ein Tier benutzen wollte.«
»Seine Worte haben dich gewiss erschreckt, aber …« Assumpta zuckte mit den Schultern und hob hilflos die Hände. »Es hat keinen Sinn, sich darüber zu beklagen. Es ist nun einmal geschehen. Ich bin sicher, ihr beide werdet euch bald wieder vertragen. Dann wird er dich nicht mehr auf so sündige Weise begehren, wenngleich es auch nicht ganz ohne Sünde ist, wenn eine Frau und ein Mann zusammenleben, ohne dass ihr Bund von der Kirche gesegnet wurde. Aber das könnt ihr wohl kaum tun, ohne dich zu verraten.«
Assumptas Worte ließen Giulia wieder etwas Hoffnung schöpfen. »Danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne deinen Rat täte.«
»Erst einmal in dein Zimmer gehen und dich anziehen. Wenn dich hier jemand mit dem da«, sie tippte dabei gegen Giulias Brüste, »herumlaufen sieht, fliegt dein Maskenspiel sofort auf. Danach frühstücken wir und fahren weiter. Entweder ist Vincenzo bis dahin zurückgekehrt, oder aber wir treffen ihn unterwegs.«
Giulia nickte erleichtert und hastete in ihr Zimmer zurück, nachdem Assumpta nachgesehen hatte, ob jemand auf dem Korridor war. Schnell machte sie sich zurecht und eilte in den Frühstücksraum, in der Hoffnung, Vincenzo dort anzutreffen. Doch er war auch hier nicht zu finden. Bei Filippa schien er auch nicht gewesen zu sein, denn die Magd sah enttäuscht aus und antwortete sehr schnippisch. Giulia fühlte sich elend und brachte kaum einen Bissen des ausgezeichneten Frühstücks hinunter, klammerte sich aber an die Hoffnung, Vin-cenzo auf den nächsten Meilen neben der Straße auflesen zu können.
Als sie weiterfuhren, bedauerte sie es, nur einen Kopf zu haben und nicht zugleich auf beiden Seiten des Wagens hinausschauen zu können.
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