Die Kastratin
Einheimischer gilt, an die zweite Stelle gesetzt.«
Giulia wusste nicht, wie es Sebaldi gelungen war, diese Lügengeschichten so schnell unter das Volk zu streuen, doch er hatte die Edelleute und reichen Bürger, auf deren Gunst sie angewiesen war, bereits damit vergiftet. Im ersten Augenblick hielt sie seine Taktik, sich als Opfer einer herzoglichen Fehlentscheidung auszugeben, für verfehlt. Dann sagte sie sich jedoch, dass die Wohlhabenden in Mantua wohl selbstbewusst genug waren, einen angeblich verleumdeten Venezianer zu hofieren, um das vermeintliche Unrecht wieder gutzumachen. Auf alle Fälle war es Sebaldi gelungen, sich interessant zu machen. Von diesem Nimbus umgeben und mit dem Reiz des Neuen ausgestattet, war er auf dem besten Weg, sie auszustechen und der neue Liebling der kunstbeflissenen Bürger zu werden.
An diesem Abend kehrte Giulia so mutlos wie selten zuvor in ihre Herberge zurück. Auch der nächste Morgen brachte keine Entspannung. Ihr Vater lief noch immer mit Leichenbittermiene herum und ließ sich deutlich anmerken, dass er sie für eine elende Versagerin hielt. Es kam auch niemand in die Herberge, um sie zu einem Konzert einzuladen. Am Tag darauf war es nicht anders. Um nicht andauernd der deprimierenden Gegenwart ihres Vaters ausgesetzt zu sein, ging Giulia in die Kirche Santa Maria Maddalena, um die Abendmesse zu hören und zu beten.
Als sie wieder nach Hause kam, saß ihr Vater mit hochrotem Gesicht und gekränkter Miene vor seinem Weinkrug. »Weißt du, wer hier war?«, fragte er sie unvermittelt.
Giulia schüttelte stumm den Kopf. »Es war Pioppo, dem der Laden um die Ecke gehört. Er wollte dich für den Geburtstag seiner Frau engagieren.«
Giulia zog unbehaglich die Schultern hoch. »Der Krämer Pioppo kam mir bisher nicht so wohlhabend vor, sich einen Kastratensänger leisten zu können.«
Girolamo Casamonte warf empört die Arme hoch. »Weißt du, wie viel er für deinen Auftritt geboten hat? Zwei Scudis!«
Giulia fasste sich an den Kopf. Zwei Scudis waren nicht nur ein armseliges, sondern sogar ein beleidigendes Angebot. Wenn der Krämer es wagte, damit zu kommen, musste ihr Ruf in Mantua bereits so stark gelitten haben, dass sie mit keinem weiteren Engagement mehr rechnen konnte. Das versuchte sie auch ihrem Vater zu erklären. Der winkte jedoch ab und erwiderte mit dem durch nichts zu erschütternden Optimismus eines Trinkers, dass sich die Zeiten schon wieder bessern würden.
Als sich jedoch am nächsten Morgen der Wirt des Goldenen Lamms vor ihm aufbaute und ihn aufforderte, die noch ausstehende Miete für ihre Zimmer zu begleichen und, falls sie noch länger zu bleiben wünschten, eine entsprechende Vorauszahlung zu leisten, platzte ihm der Kragen. »Wir bleiben keine Stunde länger als nötig in dieser undankbaren Stadt«, schrie er den Wirt an.
Giulia atmete hörbar auf. »Wenn du erlaubst, werde ich Beppo zum Palazzo Ducale schicken, damit er der Gräfinwitwe von Falena unsere Zusage überbringt.«
»Die Gräfinwitwe von Falena?«, rief der Wirt sichtlich verdattert. »Aber ich dachte, Ihr …«
»Überlasse das Denken den Pferden, die haben größere Köpfe als du«, spottete Girolamo Casamonte, der bereits wieder obenauf war. »Wir werden diesen Winter im Palast der Gräfinwitwe verbringen und an ihrem Tisch speisen, auf dem gewiss bessere Leckerbissen stehen werden als in Eurer Bauernherberge.« Mit diesen vernichtenden Worten warf er dem Wirt das ausstehende Geld vor die Füße und forderte ihn auf, einen neuen Krug Wein zu bringen.
IV .
A ls sich der Wagen, in dem Giulia, ihr Vater, Assumpta, Beppo und ihr gesamtes Gepäck untergebracht waren, dem düster wirkenden Witwensitz der Gräfin näherte, wunderte Giulia es nicht, dass ihre Auftraggeberin unter Wintermelancholie litt. Die Burg hatte nichts mit dem eleganten Palazzo gemein, den die Grafen von Saletto sich hatten errichten lassen, sondern wirkte mit ihren altertümlichen Wehrtürmen und dunkelgrauen Mauern eher wie ein Gefängnis als wie ein Heim.
Der Weg zur Burg führte durch ein winziges Dorf, das aus einer Hand voll kleiner, aus Bruchsteinen errichteter Hütten bestand. So sehr Giulia auch den Kopf verdrehte, gelang es ihr nicht, eine Herberge zu entdecken. Es schien auch keine Händler oder Handwerker hier zu geben, ja, noch nicht einmal einen Back-ofen, den sich die Dörfler teilen konnten. Den nächstgelegenen Ort, in dem es etwas zu kaufen gab, hatten sie vor mehr als drei Stunden
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