Die Kastratin
auf die Annehmlichkeiten einer Stadt wie Mantua zu verzichten, um den Winter in einer einsamen Burg in den Bergen zu verbringen. Vielleicht war es sogar ganz unmöglich. Sie wollte es jedoch in jedem Fall versuchen. »Ich werde mich noch zwei Wochen hier in Mantua aufhalten. So lange habt Ihr und Euer Vater Zeit, euch zu entscheiden«, sagte die Gräfinwitwe und reichte ihr die Hand zum Kuss. »Vergesst nicht, dass Ihr das Werk eines guten Samariters tut, wenn Ihr mich begleitet.«
Giulia berührte mit ihren Lippen die welke Haut und verabschiedete sich. Nachdem sie Beppo im Pförtnerhaus abgeholt hatte, kehrte sie von widerstrebenden Gefühlen geplagt in das Goldene Lamm zurück.
III .
D as Donnerwetter, das Giulia dort erwartete, war noch heftiger als befürchtet. Ihr Vater tobte vor Wut und beschimpfte sie so lautstark, dass man es im ganzen Viertel hören musste. Er nannte sie dumm, faul und unfähig und verwendete weitere Ausdrücke, die ebenso gemein wie kränkend waren. Im ersten Zorn hob er sogar die Hand, um sie zu schlagen.
Giulia fühlte sich an ihre letzten Wochen in Saletto erinnert, als ihre Mutter in ähnlicher Weise getobt hatte. Maria Fassi war krank gewesen und zudem aus Schmerz um ihre toten Söhne fast von Sinnen, während ihr Vater seit vielen Jahren von dem Geld lebte, das sie verdiente, und keinen Handschlag mehr für sie tat.
Die Verachtung, die sie für ihn empfand, musste sich auf ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn er senkte die Hand wieder, schenkte sich neuen Wein ein und grollte nur noch leise vor sich hin. »Die Gräfinwitwe von Falena bat mich, über den Winter in ihre Dienste zu treten. Auf ihrem Schloss hätten wir die Gelegenheit, Geld zu sparen, da wir weder für Kost noch für Unterkunft aufkommen müssten. Ich könnte dann im Frühjahr ein paar Wochen zu einem der bekannten Musiklehrer reisen und bei ihm lernen. Belloni ist der Ansicht, dass es sich lohnen würde.« Für einen Augenblick hoffte sie, ihr Vater wäre vernünftig genug, diese unerwartete Gelegenheit beim Schopf zu greifen.
Er starrte sie jedoch nur empört an. »Wieso sollten wir Mantua verlassen? Hier geht es uns doch bestens.«
»Noch geht es uns gut«, erwiderte Giulia kalt. »Doch wie viele Engagements sind in den letzten Tagen bei uns eingegangen?«
»Keines, aber das hat nichts zu sagen, weil niemand dem Herzog in die Quere kommen wollte. Spätestens morgen, vielleicht schon heute Abend, werden die Leute dich wieder zu sich rufen.« Girolamo Casamonte zeigte seiner Tochter deutlich, dass er von diesem Thema nichts mehr hören wollte, und machte sich jetzt daran, die Summe zu zählen, die sie vom Herzog für ihren zweiten Platz erhalten hatte.
Giulia sollte Recht behalten. Weder an diesem Tag noch an den folgenden verirrte sich jemand in das Goldene Lamm, um den Kastratensänger Giulio Casamonte zu engagieren. Während ihr Vater vor einem vollen Krug Wein vor sich hinbrütete, machte sich Giulia für den letzten Auftritt zurecht, zu dem sie eingeladen worden war. Nun rächte es sich, dass ihr Vater nichts getan hatte, um sich in Mantua einen eigenen Namen zu schaffen, dachte sie verzagt. Er hätte versuchen müssen, als Musiker, Kapellmeister oder Komponist Fuß zu fassen. So hing ihrer aller Lebensunterhalt allein von ihrer Stimme ab und von der Bereitschaft der Menschen, sie zu engagieren.
Der Erste, dem sie bei ihrem Eintritt in die Villa ihres Auftraggebers begegnete, war ausgerechnet der Kastrat Sebaldi. Er ging grußlos an ihr vorüber, doch sein hasserfüllter Blick bewies ihr, dass er nicht eher aufgeben würde, bis er sie als Konkurrenz ausgeschaltet hatte. Wie geschickt er dabei bereits vorgegangen war, merkte sie an dem eher verhaltenen Beifall, den sie erhielt. Wenig später bekam sie ein Gespräch zweier Damen mit, die von dem so männlich wirkenden Sebaldi schwärmten und kein gutes Haar an Giulio Casamonte ließen. »Ich habe schon immer gesagt, dass dieser Casamonte völlig überschätzt wird«, erklärte die eine fast giftig.
Die andere stimmte ihr eifrig zu. »Soviel ich gehört habe, soll es bei dem Wettsingen beim Herzog nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Guglielmo Gonzaga wollte Sebaldi nicht gewinnen lassen, weil er Venezianer ist und derzeit ja erhebliche Spannungen zwischen unserem Herzog und dem Dogen bestehen. Deswegen wurde diese Spottfigur von einem Belloni zum Sieger erklärt und Casamonte, der ja schon länger hier weilt und mehr oder weniger als
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