Die Katastrophe
Bewegung stoppte, nicht länger als eine Sekunde in der Luft verharrte und dann kopfüber in die Tiefe raste. Katies erste Vermutung, er sei auf der Jagd nach einem Fisch, wurde zunichtegemacht, als er pfeilschnell in den sumpfigen Matsch stürzte und im Bruchteil eines Augenblicks versank. Alle verharrten, starrten auf den einen Punkt im Schlamm und die Hoffnung schwand von Minute zu Minute: Der Vogel tauchte nicht wieder auf.
»Wahnsinn. Irgendetwas hat ihn nach unten gezogen«, flüsterte Benjamin.
»Die Strömung«, hörten sie eine Stimme hinter sich. »Die Strömung hat ihn nach unten gezogen.«
Katie wandte sich um und stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte.
Vor ihnen stand ein schlankes und hochgewachsenes Mädchen. Über ihren schwarzen Hosen trug sie einen Poncho und auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht vor der Sonne schützte. Als sie ihn abnahm, tauchten dunkelbraune strahlende Augen auf, die die Runde spöttisch musterten.
»Hi«, sagte das Mädchen und setzte den Rucksack ab. »Ich bin Ana. Sehr weit seid ihr ja noch nicht gekommen. Ich warte schon fast eine Stunde auf euch.«
»Was für eine Strömung?«, fragte David, ohne sich vorzustellen.
»Ein unterirdischer Fluss. Meine Vorfahren nennen ihn: Black River – Schwarzer Fluss. Seinetwegen wurde dieses Tal hier nie besiedelt. Sie sagen, er bringt den Tod.«
11
J ulia lauschte, doch außer den glucksenden Lauten des schwammigen Untergrunds unter ihren Füßen hörte man kaum ein Geräusch. Jeder von ihnen hing schweigend seinen Gedanken nach. Einzig Katies Atemzüge – oder waren es ihre eigenen – durchbrachen die Stille.
Diesen Weg, wenn man ihn denn so nennen wollte, war schon lange niemand mehr gegangen.
In dem schmalen Saum zwischen Wald und Sumpf standen das Gras und das Gebüsch meterhoch. Die schweren Unwetter des vergangenen Sommers schienen Spuren hinterlassen zu haben. Offenbar hatten die starken Regenfälle und die Stürme, die in manchen Nächten über das Tal gefegt waren, eine Schneise durch das Gestrüpp geschlagen, der sie nun in seltsamen Zickzackbewegungen folgten. Und wenn es wirklich einmal nicht weiterging, dann schlugen sie mit Ästen, die sie unterwegs auflasen, die dornigen Zweige einfach zur Seite. Es kostete enorm viel Kraft, Kraft, die sie eigentlich für den morgigen Aufstieg benötigten.
Einzig Paul hielt die ganze Zeit sein Messer in der Hand, das er irgendwann aus dem Rucksack gezogen hatte und es schien ein besonderes Vergnügen für ihn zu sein, die widerspenstigen Äste niederzumähen. Er verhielt sich so, als schlüge er sich einen Weg durch den Dschungel.
Und an einen Dschungel, daran fühlte sich Julia tatsächlich erinnert.
Zwar ließ der Gestank nach, je weiter sie sich vom See entfernten, doch dafür wurde es zunehmend wärmer und schwüler, zumal Ana, die mit David die Vorhut übernommen hatte, sie nach und nach immer weiter vom Waldrand wegführte, sodass jeder Schatten wegfiel. Das Gebüsch wechselte sich nun mit meterhohem Schilfgras ab, das Schlammpfützen und sogar kleine Tümpel verbarg. Und das Schlimmste war auch nicht der modrige Geruch, der jetzt in der Vormittagssonne über dem Sumpf lag, sondern die Farbe des Wassers, das zwischen den grünen Grashalmen hochschwappte. Schlammig, dunkelgrün, kloakenbraun, eitergelb.
Julia dachte noch immer an den Vogel. Wie schnell der Morast ihn verschluckt hatte. Als ob in den Tiefen dieses Sumpfes Wesen existierten, die ihre langen Finger, getarnt als Gräser, nach allem Lebendigen ausstreckten. Trotz der Hitze lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. In ihrem Kopf tauchte eine Vision auf, wie jeden Moment aus dem schlammigen Grün Gesichter auftauchen konnten. Menschliche Gesichtszüge, die sich aus dem Morast schälten, im Schlamm zu Masken erstarrt.
Die Stimmen der anderen drangen wie aus weiter Ferne zu ihr. Und sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.
Benjamin schien die Nähe des Sumpfes geradezu magisch anzuziehen. Ständig bog er irgendwo ab und die hohen Halme des Schilfgrases verschluckten ihn. Zu hören war dann nur noch, wie er durch den Morast stapfte. Dieses platschende Geräusch, wenn er in ein Wasserloch trat, ging Julia tierisch auf die Nerven. Dann tauchte er wieder auf und vergnügte sich damit, mit einem langen Stock in dem nachgiebigen Schlamm zu stochern.
Chris, der schweigend vor ihr herging, hatte sich seit geraumer Zeit nicht mehr zu ihr umgedreht. Er hatte sie den gesamten gestrigen Abend
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