Die Katastrophe
Ich habe dich beobachtet. Ob in der Bibliothek oder im Computer Department – du hast alle Atlanten, Websites und Bücher über die Gegend hier gewälzt und nichts gefunden, oder?«
Katie zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Lust, mit Benjamin zu streiten, schon gar nicht, wenn er betrunken war.
»Aber das kommt davon, wenn man nur auf seinen Verstand hört. Es sind die Augen, die man offen halten muss. Die Augen sind der Sinn, mit dem man am meisten mitbekommt. Wenn man sie denn richtig nutzt.« Er stockte kurz. »Wie ich.«
»Ausgerechnet du!« Paul erhob sich und kam zurück an den Tisch. »Du bist die meiste Zeit bekifft oder besoffen oder versteckst dich hinter deiner Kamera. Du bist doch derjenige, der nichts kapiert.«
»Ach ja, meinst du? Aber da täuschst du dich gewaltig.«
Benjamin war aufgesprungen und kletterte auf den Tisch. »Denn ich habe etwas, da pinkelt ihr euch an, wenn ihr das seht. Ich bin der Hüter der Wahrheit! Ich habe euch alle auf dem Film. Ich kenne jeden von euch besser als ihr euch selbst. Denn immer dann, wenn ihr denkt, ihr seid alleine, bin ich irgendwo und brenne euer Gesicht auf dieses Ding hier.« Er hob die Kamera hoch.
»David zum Beispiel.«
David blickte ihn verwirrt an. »Was ist mit mir?«
»13. Januar 2009.«
Nun wurde David blass, doch bevor er etwas sagen konnte, redete Benjamin schon weiter. »Oder was ist mit deinem Bruder, Julia? Was sind das für Träume, die er hat? Warum schreit er nachts wie am Spieß? Und was ist mit dir, Katie?«
»Halt einfach die Klappe, Benjamin«, sagte sie und versuchte, ihr klopfendes Herz zu beruhigen.
»Was geht in jemandem vor, der mitten in der Nacht loszieht, um ohne Seil und Haken Felswände hochzusteigen? So jemand ist doch total krank, oder? Du spielst mit deinem Leben, wann immer du kannst. Fragt sich nur, warum.« Er machte eine große Geste mit den Händen. »Leute – das sind die wahren Geschichten! Die Geschichten, die mich interessieren. Was hinter eurer Fassade steckt. Was sich dort unten«, er deutete zum Fenster hinaus, »im Tal wirklich abspielt. Es sind die Augen, auf die man sich verlassen muss. Und genau die haben mich nicht nur den Brustbeutel im Sumpf finden lassen. Sondern auch das hier!« Im nächsten Moment hielt Benjamin ein Stück Papier in der Hand und schwenkte es hoch in der Luft.
»Was ist das?«, fragte Julia.
Benjamin senkte seine Stimme zu einem dramatischen Flüstern. »Das ist etwas, was ich hier in der Hütte gefunden habe. Etwas, das ihr nicht sehen wollt.«
Bevor Benjamin noch richtig reagieren konnte, war Paul mit einer einzigen Bewegung neben ihm und riss ihm den Fetzen aus der Hand.
»He, gib das wieder her!«
Doch Paul drehte sich um und starrte auf das Papier.
»Was ist das?«, fragte Julia.
»Noch ein altes Foto, sonst nichts.«
»Sonst nichts? Von wegen! Wisst ihr, wo ich das gefunden habe? Oben in einem der beiden Schlafräume.«
»Na und?« Chris zuckte mit den Schultern.
»Gib mal her, Paul!«
Paul legte das Foto vor ihnen auf den Tisch. Das Bild zeigte acht strahlende junge Gesichter vor der Hütte, in der sie saßen. Die Sonne schien. Hinter ihnen erhob sich der runde Gipfel des Ghost.
»Ist euch klar, was das ist?«, fragte Julia tonlos.
David schüttelte entschieden den Kopf. »Quatsch. Das kann nicht sein! Das ist doch eindeutig ein Polaroid-Foto. Hat es das damals überhaupt schon gegeben?«
Benjamin hob die Hand, als wolle er den Verkehr anhalten. »Die ersten Polaroid-Kameras kamen 1972 auf den Markt.«
Chris’ Stimme klang heiser. »Julia hat recht. Das muss das letzte Foto sein, bevor sie aufgebrochen sind.«
Katie starrte die Gesichter an und spürte, wie sich die Gänsehaut, die sie vorhin verspürt hatte, über ihren ganzen Körper ausbreitete. Etwas Unbegreifliches passierte mit ihr. Sie hätte wegrennen wollen, laut schreien.
»Und fällt euch etwas auf? Fällt euch nichts auf? Benjamin schien der Hysterie nahe zu sein. »Auf dem Foto ist auch eine Asiatin! Ist das jetzt Zufall oder Schicksal?«
20
I n dieser Nacht schlief Julia immer nur kurze Zeit, um sofort wieder hochzuschrecken, wenn die Bilder auf sie einstürmten. Sie lag zwischen Katie und Ana in einem fürchterlich unbequemen Doppelbett in der Mitte. Ständig spürte sie den Holzrahmen unter sich und hatte das Gefühl, die beiden Holzbetten schoben sich auseinander.
Chris hatte ihr diesen Blick zugeworfen, als sie schlafen gingen. Sie wusste, er hatte fest damit gerechnet, mit
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