Die Katastrophe
die einen hier oben in die Irre führten?
Geh zurück, Julia! Du musst das nicht tun! Wecke die anderen auf. Chris oder Katie.
Ihr fiel ihr Bruder ein.
Robert hat vorausgesagt, dass etwas passieren würde.
Und das Bild ihres Vaters.
War er denselben Weg gegangen wie sie? Mitten in der Nacht?
Hilf mir!
Nein, das war nicht er!
Sondern der Ruf eines Mädchens.
Julia hatte inzwischen den Felsvorsprung erreicht, der den Abstieg zum Gletscher markierte. Das Schneefeld unter ihr war immer noch in ein grünliches Licht getaucht, aber sie achtete nicht länger darauf.
Stattdessen suchte sie den Weg den Hang hinunter. Erst reichte der Schnee ihr nur bis zu den Knöcheln, doch mit jedem Schritt wurde ein Fortkommen beschwerlicher. Julia biss die Zähne zusammen. Verdammt, das fühlte sich nicht wie Schnee an, das war eher wie dieser verdammte Sumpf!
Sie hob mühsam ihren rechten Fuß.
Noch immer hörte sie das Wimmern, aber sie konnte es nicht mehr genau orten. Unsicher drehte sie sich um. Ging sie in die falsche Richtung?
Und im nächsten Moment trat sie ins Leere oder vielmehr in ein Loch, das unterhalb des Schnees verborgen gewesen sein musste.
Sie versuchte, ihren Fuß mit aller Macht herauszuziehen, aber sie steckte fest – so fest wie in dem Tunnel!
Verflucht, warum war sie nicht einfach in ihrem Schlafsack geblieben? Musste sie unbedingt allem auf den Grund gehen? Hatte ihr das schon jemals im Leben weitergeholfen? Nein, Leute wie Benjamin waren es, die überlebten. Vielleicht zugekifft und volltrunken, aber sie überlebten. Benjamin nahm alles leicht, aber sie, Julia...
Sie fühlte ihre Beine kälter werden. Eiseskälte kroch von den Zehen hoch bis zu den Waden. Sie konnte keinen einzigen Schritt mehr machen, ihre Beine nicht mehr bewegen. Sie spürte, wie jeder einzelne ihrer Zehen gefror und wenn nicht bald jemand kam, um sie zu befreien, dann...
»Hilfe«, schrie Julia laut. »Hilf mir!«
21
E s war saukalt. September-Kälte mitten in den Rocky Mountains.
Doch diese Kälte war nicht der Grund, weshalb Katie aus dem Schlaf schreckte. Nein, jemand schrie laut um Hilfe. Direkt neben ihr. Julia.
Katie rüttelte fest an ihren Schultern. »He, Julia! Wach auf! Du träumst.«
Julia schlug die Augen auf und starrte sie verwirrt an.
»Mann, du kannst einem vielleicht Angst machen! Liegen die bei euch in der Familie, diese nächtlichen Schreiattacken?«
»Geträumt?«, murmelte Julia. »Ich habe nur geträumt?«
»Nur ist gut!«
»Oh mein Gott, das war der Horror!« Julia schüttelte sich. »Habt ihr irgendetwas ins Essen getan? Ich hatte den schlimmsten Albtraum ever. Und er war absolut real.«
Katie seufzte und sagte: »Am besten, du schläfst noch eine Runde. Du siehst echt beschissen aus. Diese Augenringe sind vielleicht echt cool für einen Londoner Insiderclub, aber um auf den Ghost zu steigen, bist du noch nicht richtig in Form.«
Ob Julia sie verstanden hatte oder nicht – in jedem Fall drehte sich die Freundin auf die andere Seite und eine Sekunde später rührte sie sich schon nicht mehr.
Im dumpfen Grau der Morgendämmerung hörte Katie ein Klappern. Sie lauschte. Hatte jemand ein Fenster geöffnet? Draußen wehte offenbar ein starker Wind. War es deswegen so verflucht kalt hier?
Durch die winzigen Fenster der engen Schlafkammer sickerte kaum Licht. Katie kramte in der Seitentasche des Rucksackes neben ihrem Bett nach ihrem Handy. Sie war sicher, dass sie es am Abend zuvor dorthinein gesteckt hatte, aber jetzt konnte sie es nicht finden. Egal – ihr Zeitgefühl, auf das sich Katie normalerweise zu hundert Prozent verlassen konnte, sagte ihr, dass sie langsam aufstehen musste. Je früher sie aufbrachen, desto besser.
Von nebenan hörte sie einen der Jungs laut schnarchen. Sie hatte Benjamin in Verdacht, der am Abend zuvor so betrunken gewesen war, dass er sich irgendwann vor der Hütte übergeben hatte.
Er würde am Berg tatsächlich ein Sicherheitsrisiko sein, aber andererseits hätte sie nicht auf ihn verzichten wollen, weil er tatsächlich genau die Fähigkeit besaß, mit der er am Tag zuvor so großspurig angegeben hatte.
Er hielt die Augen offen, war neugierig und ihm fielen Dinge auf, für die anderen der Blick fehlte. Andererseits konnte er damit auch alles durcheinanderbringen.
Er hatte diesen Brustbeutel mit dem Foto im Sumpf entdeckt und das zweite verfluchte Foto. Katie hatte fast die ganze Nacht wach gelegen, nachdem sie erkannt hatte, wen es zeigte. Wie hätte sie da
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