Die Katastrophe
Holz suchen?«
Sie erhob sich und folgte Chris und David nach draußen. Als sie vor der Hütte standen, schlug Chris sich vor die Stirn. »Wir Idioten«, sagte er. »Wir haben ja die Baumgrenze schon lange hinter uns gelassen.«
»Du hast recht«, stellte David fest. »Nicht einmal mehr Wacholderbüsche gibt es hier.«
»Sprecht nicht davon«, erwiderte Katie. »Ich rieche das Zeug immer noch.«
David grinste. »Soweit ich weiß, hat Wacholder eine wassertreibende Wirkung.«
»Du meinst, deswegen muss Ben dauernd pissen?«, lachte Chris. Offenbar hatte er seine schlechte Laune vergessen und selbst sein Zorn auf David schien in den Hintergrund getreten zu sein. »Lieber wäre mir ein Einfluss auf sein Sprachzentrum oder eine Art betäubende Wirkung.«
David sah sich um. »Aber Leute, irgendwoher muss das Holz im Ofen ja kommen«, überlegte er. »Das waren nicht irgendwelche Äste, sondern fachmännisch zerlegte Scheite. Ich schau mich mal um.«
Chris ließ sich auf die Bank fallen. »Tu, was du nicht lassen kannst.«
Katie sah hoch zum Ghost und versuchte, den Weg, den sie morgen gehen würde, zu analysieren. Der Gletscher wirkte mit seiner breiten Schneise harmlos, aber das galt für viele Gletscher. Bei Eisfeldern konnte man nicht vorsichtig genug sein und aufgrund der vielen Spalten und Risse konnte die Begehung mehr als tückisch werden.
Wieder kam ihr in den Sinn, dass Ana plötzlich behauptete, niemals in der Hütte gewesen zu sein. Was, wenn sie sich auch auf dem Gletscher nicht auskannte?
Egal. Notfalls würden sie sich ihren Weg über die Eisfelder zusammensuchen, so unmöglich schien das Katie nicht zu sein.
Und dann kam der Felsgrat, der bis hoch zum Gipfel führte. Er war zu schaffen, wenn jeder die nötige Konzentration und das Durchhaltevermögen mitbrachte.
»Tut mir leid, wie ich mich heute aufgeführt habe«, hörte sie plötzlich Chris hinter sich sagen.
Sie wandte sich um. Mein Gott, für eine Beichte oder ein therapeutisches Gespräch waren weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort. Und vor allem war sie nicht die geeignete Ansprechpartnerin.
»Das solltest du Julia sagen«, erwiderte sie.
Chris musterte sie aus seinen grauen Augen. Im Licht der Abendsonne wirkte er unverschämt lässig. Genau wie Sebastien sah er gut aus, aber auf eine so perfekte Art und Weise, die Katie immer leichtes Unbehagen einflößte. Seine braun gebrannten Züge waren absolut ebenmäßig und seine zerzauste Frisur und der Dreitagebart sahen genauso aus, als ob sie ein Modestylist für ein Werbefoto-Shooting gestutzt hatte, das unter dem Motto stand: »Naturbursche vor Bergkulisse«. Fehlte nur noch, dass er gleich einen Müsliriegel in Benjamins Kamera hielt.
»Was, wenn ich es aber lieber dir sage?« Chris ließ sie nicht aus den Augen.
Katie schüttelte sich. »Du hast manchmal etwas an dir, was einem Angst macht«, erklärte sie geradeheraus. »Das können wir morgen am Berg nicht brauchen. Und vor allem solltest du deine Privatfehde mit David unten im Tal lassen. Da gehört sie auch hin.«
»Du bist doch mit Julia befreundet. Was meinst du, liebt sie mich?«
»Ab zweitausend Meter Höhe bin ich nur noch mit mir selbst befreundet«, erwiderte Katie kurz angebunden. »Hier oben sind Gefühle wie Eifersucht, Liebe, Hass völlig fehl am Platz. Schau dich doch mal um!« Sie deutete hinüber zu den Gipfeln, über die sich bereits der große Schatten der Dämmerung schob. »Das hier ist eine völlig andere Welt. Dort unten im Tal sind wir so klein.« Sie machte eine Andeutung mit den Fingern. »Und dementsprechend sind wir auch mies drauf. Aber hier oben, wo es nicht einmal mehr Wacholder gibt...« Sie grinste. »Da können wir uns so groß fühlen, dass alles unwichtig wird. Nur noch, dass man es erleben darf. Das ist das Einzige, was zählt.« Katie holte tief Luft. Oh Jesus, sie wusste selbst nicht, was plötzlich in sie gefahren war. Normalerweise beschränkten sich ihre Antworten auf maximal ein, zwei Sätze.
»Wer spricht von Erleben, wenn es vor allem ums Überleben geht . . .«, sagte Paul, der aus der Hütte kam und ihre letzten Worte mit angehört hatte.
David ersparte Katie eine Antwort, als er von hinten auftauchte und rief: »Dort drüben ist ein Schuppen mit jeder Menge Brennholz. Unser gemütlicher Hüttenabend ist gerettet.«
»In jedem Fall!« Benjamin erschien in der Tür, übers ganze Gesicht grinsend. »Achtung.« Er hob den Arm und warf Chris, Paul und Katie jeweils eine
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