Die Katastrophe
Nebelfetzen, das aus dem See aufstieg. Die hellen Collegegebäude lagen direkt gegenüber. Wie Spielzeuggebäude sahen sie von hier oben aus, doch sogar Einzelheiten waren zu erkennen, so klar war die Luft.
Der Anblick schüchterte Katie nicht länger ein. Im Gegenteil. Sie empfand etwas völlig anderes.
Sie hatte sie entdeckt, die Lücke im Panzer ihrer Mutter. Sie hatte jahrelang danach gesucht. Und Katie wusste auch genau, was das für ihre Zukunft bedeutete.
Macht.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Macht über ihre Mutter. Und diese Macht hatte ihr das Tal verliehen.
Das Tal war auf ihrer Seite. Katie fühlte es deutlich. Es würde sie auch auf den Gipfel bringen!
»Okay!« Anas energische Stimme riss Katie aus den Gedanken. »Zieht eure Klettergurte an, schnallt eure Steigeisen über und seilt euch an.« Sie warf David und Paul jeweils eine Reepschnur zu. »Hier. Ab sofort seid ihr beide für eure Partner verantwortlich.«
»Wozu brauchen wir eigentlich den Eispickel?«, fragte Julia.
»Damit können wir uns gegenseitig zu Steaks zerhacken, wenn wir nichts mehr zu essen haben«, erwiderte Benjamin.
25
M ein Gott, wie winzig Katie sich fühlte angesichts der gewaltigen Eismassen, die sich über Jahrtausende hinweg hier gebildet hatten. Schicht für Schicht.
Obwohl der Schnee des Vortages weitgehend abgetaut war, lag noch eine leichte Decke über dem Eis. Der Gletscher strahlte in einem hellen, fast einheitlichen Weiß und bildete einen unwirklichen Gegensatz zu dem blauen Himmel über ihnen, über den sich hin und wieder vereinzelt Wolken schoben. Sie waren eingetaucht in eine Märchenwelt. Eine Märchenwelt, eingeschlossen in Berge und Felsen, erhabener als Katie es sich je vorgestellt hatte. Vielleicht lag es an dem Spiel von Licht und Schatten, dass das Panorama der umliegenden Gipfel sich ständig zu verändern schien.
Rechts vor ihnen ragte die Steilwand zum Ghost hinauf. Das Schmelzwasser sammelte sich in schmalen Rinnen und stürzte den nackten Fels herunter.
Und die Wolken, die darüber hinwegzogen, vollführten ein Schattenspiel auf der dunkelgrauen Wand.
»Wir sind nicht hier, um Sightseeing zu machen«, trieb Ana die Gruppe an.
Katie staunte, mit welch schlafwandlerischer Sicherheit Ana sie führte. Ihre Schritte waren gleichmäßig, sicher und in einem Tempo, dass alle gut folgen konnten. Und mit welcher Ruhe sie die Wege über die bizarr geformten Eisfelder fand, vorbei an Respekt einflößenden Wächten und lang gezogenen Schneedünen.
Jede Gletscherspalte umging sie und zögerte kein einziges Mal. Jetzt wirkte sie tatsächlich wieder wie die Bergführerin, die schon zahlreiche Touren auf dem Gletscher geleitet hatte. Aber warum hatte sie dann gesagt, dass sie noch nie auf der Hütte gewesen war?
Hin und wieder bückte sie sich und kennzeichnete besonders markante Stellen für den Rückweg mit einem Stein.
Katies Respekt vor Ana wuchs mit jeder Minute. Hier oben schien sie in ihrem Element zu sein, eins mit der Natur, die Katie an diesem Morgen so schön wie noch nie erschien. Nein, sie konnte sich in diesem Moment keinen anderen Ort der Welt vorstellen, wo sie lieber wäre.
Auch die anderen schienen aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen. Besonders Julia strahlte unter der Gletscherbrille und der dicken Mütze.
»Wow, wow!« Auch Benjamin konnte nicht aufhören, seiner Bewunderung Ausdruck zu geben. »Megawahnsinn! Das ist eine gigantische Kulisse. Hey, ich könnte auf die Knie fallen und diese Kulisse anbeten!«
In seinem Fall wunderte sich Katie am meisten, dass die ungewohnte Anstrengung ihm nichts auszumachen schien. Zudem schien er angesichts der Gletscherspalten und Wächten einen für ihn untypischen Respekt zu verspüren und blieb ungewohnt diszipliniert in der Reihe. Er achtete sogar darauf, das Seil zu Julia immer straff gespannt zu halten.
Aber auch der Rest der Truppe schlug sich besser, als Katie es je zu hoffen gewagt hatte. Sie waren inzwischen gut zwei Stunden unterwegs und kamen ihrem Ziel zügig näher.
Vor ihnen ragte die runde Kuppe des Ghost auf und warf ihren Halbschatten auf die immer ausgedehnteren Eisflächen des Gletschers. Katie hatte vermutet, die besondere Form des Berges, die Ähnlichkeiten mit einem Geistergesicht, das man vom College erkennen konnte, sei Ergebnis einer Täuschung aus der Ferne. Doch hier oben wurde die Ähnlichkeit vielleicht noch deutlicher.
»Gruselig, oder?«, rief in diesem Moment Benjamin. »Das da vorne in der
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