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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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erinnern. Hatte ihre Mutter irgendetwas zu der Entscheidung gesagt, ans Grace zu gehen? Nein – nichts. Aber das war ja nicht ungewöhnlich. Ihre Mutter war der schweigsamste Mensch, den sie kannte. Okay, wenn es darauf ankam, konnte sie super Konversation machen, ja sie schien den Begriff Small Talk geradezu erfunden zu haben. Vorzugsweise plauderte sie über das Wetter oder die besten Restaurants in D.C.
    »Ach, Sie kennen Nora nicht? Ihr Restaurant in der Florida Avenue ist der Geheimtipp. Oh, da müssen Sie unbedingt einmal hin, das kann ich Ihnen empfehlen. Erwähnen Sie bei der Reservierung, dass ich Sie geschickt habe. Warten Sie, ich habe zufällig eine Visitenkarte dabei.«
    Von wegen Zufall! Katies Mutter hatte von allem und jedem immer Visitenkarten in ihrer Handtasche.
    Und plötzlich erinnerte sich Katie wieder mit überdeutlicher Klarheit an den Grund, der sie veranlasst hatte, überhaupt das Angebot des Grace anzunehmen.
    Es waren die verschlossenen Türen gewesen.
    Katie war mit verschlossenen Türen aufgewachsen. Und den Stimmen dahinter. Die Stimmen ihrer Eltern, die sogar das aufgeregte Schlagen ihres Herzens übertönten. Sie wusste immer, wann es um sie ging. Nach einem dieser Gespräche hinter der verschlossenen Tür der Bibliothek hatte sie die Einladung an das Grace College entdeckt. Katie hatte sich angewöhnt, immer den Ort der Geheimgespräche aufzusuchen, als würden dort vielleicht noch Spuren zu finden sein; Worte, die ihre Eltern versehentlich hatten fallen lassen.
    Und so war sie auf den Brief gestoßen. Die Einladung ans Grace mit dem Hinweis, dass sie aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Schulleistungen keine Aufnahmeprüfung würde ablegen müssen. Der Brief war an sie adressiert gewesen, doch wie all ihre Post hatte ihr Vater auch diesen Brief geöffnet, bevor er ihn ihr überreichte.
    Katie wich einem Wasserloch aus, das der getaute Schnee gebildet hatte. Vor ihr ging Paul, er hatte sich dem gleichmäßigen Tempo angepasst, das Ana vorgab. Genau wie Katie bewegte er sich geschmeidig den Hang hinunter.
    Auf etwa der Hälfte der Strecke änderte Ana die Richtung und schlug einen Bogen ein. Sie ging nun auf die östliche Seite der Gletschersohle zu. Katie warf einen Blick auf das Panorama vor ihr und bemerkte, dass sie von hier aus einen kurzen Blick ins Grace Valley werfen konnte, Hunderte von Höhenmetern unter ihnen.
    Noch lag es komplett im Schatten, was ihm eine Aura der Düsternis und des Unheils verlieh, während die Gebirgskette des Ghost in einem fast unwirklichen Licht der aufgehenden Sonne erstrahlte.
    Der Himmel dort oben.
    Die Hölle da unten.
    Wieder wanderten Katies Gedanken zurück zu ihrer Mutter.
    Wenn sie wirklich auf dem Foto war, und da war kein Irrtum möglich, was bedeutete das dann für Katie? Warum war ihr Name nicht auf dem Gedenkstein der Verschollenen aufgetaucht?
    Und weshalb hatte sie nicht verhindert, dass ihre Tochter ausgerechnet ans Grace ging?
    Ja, warum nur, dachte sie spöttisch. Weil sie ihm nie widersprach. Und darüber hinaus – welche Argumente hätte sie finden können? Nein, Katie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater wusste, was Mi Su in den Siebzigerjahren am College getrieben hatte. Sonst hätte er nie und nimmer zugestimmt, dass seine Tochter ans Grace ging.
    Es war unvorstellbar. Aber ihre glatte, ihre gepflegte, ihre überaus perfekte Mutter – sie hatte ein Geheimnis!
    Ein paar Herzschläge lang empfand Katie ein Vakuum in ihrem Kopf. Und sie fühlte sich betrogen. Doch bald darauf stellte sich ein anderes Gefühl ein. Katie konnte es anfangs nicht recht benennen. Ihr fiel dazu nur das Wort Genugtuung ein.
    Ana rief etwas von unten und Katie bemerkte, dass sie den Abstieg durch das Geröllfeld fast geschafft hatten. Die Scharte, die den Neben-mit dem Hauptgipfel des Ghost verband, lag unmittelbar vor ihnen.
    »Hast du schon gesehen? Dort unten?« Julia winkte zu Katie herauf. Sie hatte bereits die Sohle der Scharte erreicht und stand nun direkt an den Ausläufern des Gletscherfeldes. »Wahnsinn, oder?«
    Katie überwand die letzten Meter.
    Julia hatte recht.
    Links von ihr erstreckte sich das Geröllfeld nach oben bis zur Hütte. Rechts erstreckte sich das weiße Gletscherfeld und darüber zog sich der schmale Firngrat, den sie heute noch überwinden würden.
    Das Tal aber lag Katie zu Füßen. Und nun war es nicht länger in Schatten getaucht.
    Das blaue Wasser des Lake Mirror schimmerte durch das dünne Gespinst aus

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