Die Katastrophe
ihr zu helfen. Doch dann besann er sich anders.
Chris vor ihm schnaubte höhnisch auf. »Du schaffst das Baby«, rief er Julia zu. »Und denk daran, ich bin gleich hinter dir.«
Doch Julia schien nicht ganz überzeugt zu sein.
Katie schob sich vor. »Das ist reine Psychologie, Julia«, sagte sie. »Man kann sich nicht überwinden, weil es so tief erscheint. Dabei ist der Sprung selbst ein Kinderspiel. Du musst einfach so tun, als ob unter dir ein Netz gespannt ist. Verstehst du, das ist nicht leere Luft, sondern Stoff, Seide, eine wunderbare Hängematte . . . stell dir irgendetwas vor, was dich hält. Dann schaffst du das mit links.«
Julia schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und nickte. »Ja, da ist etwas dran«, sagte sie leise.
Dann nahm sie Anlauf, war mit einem Satz über die Spalte hinweg und brauchte noch nicht einmal ihren Eispickel.
David, Chris und Paul folgten ihr, bei allen dreien sah der Sprung mühelos aus.
Als Katie an der Reihe war, fühlte sie sich sicher. Was war diese Gletscherspalte anderes als die Brücken, die sie mit Sebastien hinuntergesprungen war?
Konzentriert nahm sie Anlauf. Ihr rechter Fuß traf den Rand der Gletscherspalte. Sie spürte, wie unter ihr Eis wegbrach und für einen winzigen Augenblick stockte ihr der Atem. Doch eine Sekunde später, als sie in der Luft hing und hinunter in die Tiefe starrte, fühlte sie sich so glücklich wie damals.
Bis sie begriff.
Da unten war kein Wasser, in das sie eintauchen konnte.
Nichts, was sie auffing.
Nein, dort unten erwartete sie das blanke Eis. Und eine blaue Tiefe. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich im Ungleichgewicht, doch dann landete sie auch schon sicher auf der anderen Seite.
Und wurde damit belohnt, dass Benjamin auf sie zustürzte und sie in seine Arme riss, etwas, auf das sie gut und gerne hätte verzichten können.
Als sie sich anschließend alle wieder formierten und das Seil von dem Felsen losgelöst war, hatte sich etwas verändert. Und Katie wusste genau, was es war. Wie sie waren nun auch die anderen überschwemmt vom Adrenalin. Sie alle fühlten sich total high.
Wie oft hatte Sebastien sie nach einem Sprung in die Luft gehoben und durch die Luft gewirbelt. »Das ist einfach cooler als jedes Dope dieser Welt, oder? Was gibt es Besseres, als sich mit seinen eigenen Endorphinen zu betrinken?«
Fast direkt hinter der Gletscherspalte befand sich der Einstieg zum Felsgrat, dessen steile Flanke hoch zum Gipfel führte und der die größte Herausforderung dieser Tour war.
»Wir gehen jetzt nur noch paarweise am kurzen Seil!«, erklärte Ana. »Ihr könnt die Gletschersicherung abnehmen.«
»Ich kann auch ohne Seil . . .«, erklärte Katie.
»Meinetwegen, aber was die anderen betrifft, gehe ich auf Nummer sicher.«
Und dann gingen sie endlich los.
Für Katie mochte der Schwierigkeitsgrad noch angehen und auch Paul bewegte sich scheinbar ohne jede Mühe vorwärts. Aber jetzt, nachdem sie klettern mussten, passte Ana das Tempo den schwächeren Mitgliedern der Gruppe an.
Katie musste sich zusammenreißen, um nicht ungeduldig zu werden. Denk an den Tunnel, ermahnte sie sich immer wieder. Da warst du auf die anderen angewiesen.
»Stellt euch mal vor, wir hätten Debbie mitnehmen müssen!« Julia streckte ihre Hand aus und überkletterte einen Felsvorsprung, der den Grat versperrte. Nach den ersten Unsicherheiten am Anfang schien ihr das Ganze Spaß zu machen. Sie blickte sich um und selbst aus der Entfernung konnte Katie ihr Grinsen erkennen. »Die hat ja schon Höhenangst am Steilufer des Lake Mirror.«
Katie musste lachen.
»Achtung, extrem schmale Stelle voraus!«
Chris, dessen Gesicht rot vor Anstrengung und Aufregung war, drehte sich zu Paul um. Der Grat verengte sich von einem halben Meter auf Fußbreite. Rechts und links fielen die Felsen hinab in die Tiefe und es gab nichts, woran man sich hätte festhalten können.
Paul nickte und folgte ihm leichtfüßig. Er sah so aus, als ob er auf der Fifth Avenue spazieren ging.
Katie konnte nicht umhin, seine Technik hier oben zu bewundern. Sie erkannte einen Könner, wenn sie ihn sah. Jeder Tritt saß, und sobald sie klettern mussten, bewegte er sich so geschmeidig, als ob er sein Leben lang nichts anderes gemacht hatte. Oder nein – als hätte sein Körper so gut wie kein Gewicht, als flöge er von Felsen zu Felsen.
Was hatte er noch gesagt?
Er hatte sie küssen wollen, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Die Frage war nur, wo er
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