Die Katastrophe
Wand sieht tatsächlich aus wie ein riesiges Auge.«
»Big brother is watching you!«, lachte Julia, während Ana sich kurz umdrehte und meinte: »Das Auge ist das Werk meiner Vorfahren.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, fragte Katie.
Ana reagierte nicht.
Vermutlich war das Ganze nur eine Legende. Katie widmete ihre Aufmerksamkeit lieber den besonderen Schwierigkeiten des Südgrates, über den sie zum Gipfel aufsteigen würde.
Doch dazu mussten sie erst einmal diesen Gletscher hinter sich bringen. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und das Schmelzwasser machte ihnen in den sonnenbeschienenen Bereichen des Gletschers zu schaffen. Im Schatten jedoch war die Luft merklich kälter als noch vor einer Stunde, sodass manche Schneebrücke so steinhart gefroren war, dass Katie das Gefühl hatte, über Asphalt zu laufen.
Und dann hob Ana die Hand als Zeichen, dass sie stehen bleiben sollten. Kurz darauf gab Paul vor Katie das Kommando weiter, das er von vorn erhalten hatte. »Fünf Minuten Pause«, sagte er.
Normalerweise wäre Katie zu ungeduldig gewesen, aber Mann – sie war ihrem Ziel schon so nahe, heute war der Tag, an dem sie dort oben stehen würde.
Wie hatte sie sich so irren können – sie hatte geglaubt, der Weg bis zur Hütte wäre kein Problem – und danach würde es erst so richtig anstrengend. Welch eine Täuschung! Gegen den Tunnel schien ihr der Gletscher das reinste Kinderspiel zu sein. Zumindest war sie hier in ihrem Element.
Und Ana hatte völlig recht, dass sie die Gruppe sich noch einmal ausruhen ließ. Denn der messerscharfe Felsgrat vor ihnen würde all ihre Trittsicherheit und absolute Schwindelfreiheit fordern.
Sie nahm ihren Rucksack ab und griff sich einen Müsliriegel sowie die Wasserflasche aus ihrem Vorrat.
Paul gut acht Meter vor ihr tat das Gleiche. Katie war so konzentriert auf den Aufstieg gewesen und so fasziniert von all der Schönheit um sie herum, dass sie nicht einen Augenblick an den Kuss vom gestrigen Tag verschwendete, obwohl Paul die ganze Zeit vor ihr herging, verbunden durch das Halbseil.
War es Absicht oder Zufall, dass sein Tempo fast zu hundert Prozent mit ihrem übereinstimmte?
Sie hatten so gut wie kein Wort gewechselt. Bereute er es inzwischen, was er über das Gefängnis erzählt hatte? Hatte er sich von dem Kuss mehr erhofft? Und wennschon, ihretwegen hätte er auf beide Geständnisse verzichten können.
Der Gedanke war unwichtig und nicht von Bedeutung und nun gab Ana auch schon wieder das Zeichen für den Aufbruch. Aber vorher wies sie die Gruppe an, dass jeder seinen Helm aufsetzen sollte.
»Ich hätte nie gedacht, dass es gleich so kalt ist, wenn man stehen bleibt«, hörte Katie Julias Stimme, während sie den Helm von ihrem Rucksack löste.
»Wenn es erst einmal hochgeht, dann wird dir schnell wieder warm«, rief Chris ihr zu.
»Aber ich darf nicht daran denken, dass wir den Weg wieder zurückmüssen.«
Sie marschierten weiter und es dauerte nicht lange, da hob Ana abermals die Hand und rief hinter sich. »Seht ihr dort vorn die gefrorenen Felsen? Dahinter sind es nur noch ein paar Hundert Meter, dann sind wir am Grat.«
Sie machte einen leichten Bogen und wenig später passierte sie die Felsen, die den Blick auf den Einstieg versperrten. Doch kaum waren sie alle wieder auf dem offenen Eisfeld, gab Ana einen Warnruf von sich.
»Was?«, hörte Katie Paul rufen.
Benjamin, der gleichzeitig mit Ana stehen geblieben war, wandte den Kopf zu ihnen und rief: »Gletscherspalte!«
»Und? Ist ja nicht die erste heute«, rief Katie nach vorne. Sie hatten bestimmt schon sechs oder sieben Gletscherspalten umgangen und Katie war jedes Mal die Luft weggeblieben angesichts der Tiefe.
»Aber die ist wirklich riesig!« Benjamin begann, erst mit den Schuhen zu stampfen, und sprang dann mehrfach in die Luft. »Oh verflucht, wenn ich stehen bleibe, wird es sofort wieder saukalt.«
»Und wenn du weitergehst, wird es auch noch stockdunkel!« Anas Stimme klang jetzt scharf über das Schneefeld. »Halt um Gottes willen genug Abstand. Diese Gletscherspalte ist der Horror.«
»Mir passiert schon nichts.« Wieder ging Benjamin ein paar Schritte nach vorne. Das Seil hing nun bis nach unten durch.
Paul war inzwischen auf Benjamins Höhe angekommen. Und jetzt war Katie auch so nahe, dass sie erkennen konnte, was die anderen meinten. An den Rändern ausgefranst, fiel die Spalte direkt über zwanzig Meter nach unten ab und zog sich wie eine riesige gezackte
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