Die Katastrophe
besten, ihr packt eure Sachen so, damit ihr nicht ewig nach den Steigeisen oder euren Klettergurten suchen müsst. Und ich hoffe, ihr habt genug gefrühstückt. Sind wir erst einmal auf dem Gletscher, dann brauchen wir Kraft und vor allem Konzentration. Eine Pause gibt es erst wieder oben auf dem Gipfel!«
Ihre gute Laune von gestern schien wie weggewischt zu sein. Als sie auf die Veranda getreten war, hatte sich ihr Gesicht verfinstert und nun war ihr Kasernenhofton ganz der alte.
Julia setzte ihre Sonnenbrille auf, obwohl die Sonne noch immer nicht aufgegangen war. »Ob sie es je auf den Gipfel geschafft haben?«, fragte sie leise und Katie wurde bewusst, dass sie selbst sich diese Frage nie gestellt hatte. Irgendwie war sie einfach davon ausgegangen.
»Vielleicht gibt es dort oben ein Gipfelbuch und sie haben sich darin verewigt. Das wäre echt gruselig.« Benjamin zog eine übertriebene Grimasse.
»Oh mein Gott«, murmelte David. »Ich hätte doch die blaue Pille nicht schlucken sollen.«
Alle lachten. Nur Ana sah ihn irritiert an.
»Matrix?«, fragte Benjamin.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Den Film nie gesehen?«
Ana schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich besitze keinen Fernseher.«
»Oh mein Gott!«, rief Benjamin mit gespieltem Entsetzen. »Wir vertrauen einem Menschen unser Leben an, der keinen Fernseher besitzt!«
»Es reicht, Ben!« Anas Stimme klang, als würde sie ihre Wut nur mühsam unterdrücken. »Regel Nummer eins bei einer Gletscherbegehung: immer anseilen. Wir gehen in einer Dreier-Seilschaft. Ich, Benjamin und Julia. Und die anderen jeweils zu zweit. Und macht Bremsknoten in die Seile.«
Doch Chris schien die Vorteile nicht akzeptieren zu wollen. »He, ich will mit Julia gehen«, protestierte er.
»Wer mit wem geht, bestimme ich.«
»Aber ich...«
Ana ignorierte ihn. »Haltet mindestens zehn Meter Abstand. Ist der Abstand geringer, ist die Gefahr zu groß, dass einer den anderen mit in die Spalte reißt, bevor er überhaupt noch einen Warnruf loswerden kann. Und denkt immer daran – das Seil darf nicht auf dem Gletscher schleifen. David, Paul – ihr geht jeweils voraus. Richtet euch in eurem Tempo nach eurem Hintermann. Keine Extratouren, Benjamin, und was deine Kamera betrifft...«
»Meine Kamera? Die geht dich gar nichts an.«
»Oh doch! Du wirst darauf verzichten müssen!«
»Mädel – bist du des Wahnsinns?« Benjamin starrte Ana an. »Ich bin nur mitgegangen, weil ich da oben vermutlich die Story meines Lebens finde! Vielleicht mache ich ein Vermögen, wenn ich das Material später verkaufe.«
»Du wirst genug damit zu tun haben, nicht selbst in einer der Spalten dort oben zu verschwinden.«
»Ohne meine Kamera gehe ich nicht.«
Ana zuckte gelassen mit den Schultern. »Dann bleibst du halt hier.«
Eine Pause entstand.
»Wir sollten alle hierbleiben«, erklang Pauls Stimme.
Nun starrten alle ihn an.
»He, du wolltest doch unbedingt dabei sein«, rief Chris.
»Aber nicht um jeden Preis. Und vor allem nicht, wenn die Bedingungen nicht gerade optimal sind.«
Chris deutete auf seine Armbanduhr. »Nicht optimal? Wann sollen wir denn sonst gehen, wenn nicht jetzt? Es ist gerade mal halb sieben. Um elf sind wir oben, sechs Stunden für den Abstieg, meinetwegen eine Stunde länger und das Ding ist gelaufen.«
»Macht, was ihr wollt. Aber entscheidet euch jetzt. Wir haben keine Zeit zum Diskutieren.« Ana wandte sich in die Runde. »Ich gehe voraus. Alle anderen versuchen, in meinen Fußspuren zu bleiben. Einmal auf dem Gletscher seid ihr darauf angewiesen. Auch wenn man die Spalten nicht sehen kann, heißt das noch lange nicht, dass keine vorhanden sind.« Ana schulterte ihren Rucksack und stieg die Stufen der Veranda hinunter.
Katie folgte ihr und kickte dabei einen der Steine des seltsamen Kreises zur Seite, den sie in der Nacht zerstört hatte.
Acht Steine hatten den Kreis gebildet. Genau wie die acht Gesichter auf dem Foto, dessen Existenz Katie zu verdrängen versucht hatte.
Ein Gesicht war tatsächlich koreanisch gewesen, wie Benjamin ganz richtig erkannt hatte.
Das Gesicht von Katies Mutter.
Zunehmend gewann die Sonne an Kraft und die letzten Reste des Schnees vom Vortag schmolzen dahin. Überall in den felsigen Rinnen staute sich das Wasser oder rieselte in kleinen Bächen die Felsen hinunter. Während sie das Geröllfeld bis zur Scharte hinunterstiegen, auf dem gestern noch fast ein Meter Schnee gelegen hatte, versuchte Katie, sich zu
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