Die Katastrophe
Alles okay. Anschließend trieb sie zwei Klemmkeile in eine Ritze vor ihr und baute einen Standplatz. Hier konnte sie Paul sichern.
Als sie damals Ana in dem Sportladen in Fields kennengelernt hatte, war plötzlich eine Frau hereingestürmt und hatte ihr Gespräch unterbrochen. Und diese Frau, die älter aussah als Katies Großmutter in Korea, hatte Ana Mum genannt.
»Mum, Mum, was machst du hier? Ist etwas passiert?«
»Dein Großvater...«
Im nächsten Moment waren beide verschwunden. Und vier Wochen später war Ana oben im Grace aufgetaucht und hatte Katie sprechen wollen.
»Willst du immer noch auf den Berg?«, hatte sie gefragt.
»Auf jeden Fall.«
»Vierhundert Dollar im Voraus.«
»Vierhundert Dollar? Wofür?«
»Willst du oder nicht?«
»Klar will ich.«
»Und wir gehen da nicht allein hoch. Zu zweit auf einem Gletscher herumzulaufen ist verrückt.«
Vierhundert Dollar.
Wofür?
Katie zögerte kurz, griff dann in den Fels über ihr und begann, sich langsam hochzuziehen. Wie viele Meter bis zum Gipfel mochten es sein? Fünf, mehr nicht. Noch zwei Klemmkeile. Das reichte.
Katie konzentrierte sich jetzt voll. Die Stimmen der anderen unter ihr schienen sich aufzulösen. Sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben, nicht einmal da unten in dem Tunnel, aber so direkt vor dem Ziel zu sein, war etwas ganz anderes.
Und noch etwas anderes war es, den letzten Schritt hinter sich zu bringen und es endlich geschafft zu haben.
Dieses Gefühl war so überwältigend.
Die Anstrengung, die Zweifel, die Angst. Sie lösten sich auf. Jetzt zählte nur eines: auf dem Gipfel ankommen. Oben stehen. Auf dem Ghost. Der Augenblick, wenn die Welt einem zu Füßen lag. Katie schloss die Augen, holte tief Luft und stieß einen Schrei aus, der über das Tal hallte.
Nach und nach folgten die anderen.
Benjamin fand natürlich nur einen Ausdruck dafür.
Es war der Wahnsinn.
Ein guter Wahnsinn.
Der beste Wahnsinn ever.
Sie lagen sich in den Armen und brüllten vereint: We are the champions!
Wiederholten es immer wieder.
We are the champions!
Und nun konnten alle wieder über Benjamin lachen, wie er durch den Schnee stapfte, die Filmkamera vor dem Gesicht, und seine üblichen Kommentare abgab: »Nicht blöd grinsen! Lachen. Lachen, als ob man euch gerade die Glückshormone mit einer Spritze in die Venen injiziert hat. Versteht ihr? Ihr seid den Göttern nahe und das sollte man euch ansehen.«
Katie gönnte ihnen den Spaß, dabei wusste sie es genau. Es gab nur einen Champion und das war sie! Ohne sie, ohne Katie West wäre keiner von ihnen hier oben.
Bis auf Ana.
»Ana?«, rief Katie.
Die anderen blickten sie verwundert an.
»Wo ist Ana?«
David sah sich um. »Ist sie nicht hier?«
»Wo habt ihr sie zum letzten Mal gesehen?«
»Sie wollte als Letzte gehen«, erklärte Benjamin. »Damit sie sicher ist, dass wir es alle schaffen.«
Das anschließende Schweigen war Unheil verkündend. Sogar Benjamin hatte aufgehört, wie ein Verrückter in die Luft zu springen.
Eine schreckliche Angst überfiel Katie.
Sie beugte sich über die Bergkuppe und starrte nach unten. Fünf Meter unterhalb lag Ana Cree und rührte sich nicht.
26
A na?«
Ein scharfer Wind fegte über den Gipfel des Ghost hinweg, der Katie plötzlich wesentlich kälter erschien als noch eine Sekunde zuvor.
Sie starrte fassungslos auf die reglose Gestalt unter ihr. War Ana vom Felsen gestürzt oder hatte sie noch nicht einmal versucht, nach oben zu klettern?
»Ana!«
Das Mädchen rührte sich nicht.
Das Pfeifen des Windes schrillte in Katies Ohren. Jetzt? Ausgerechnet jetzt, wo sie das Ziel erreicht hatten, musste das geschehen?
»Was ist passiert?« David tauchte neben Katie auf.
»Sag du es mir! Als ich nach oben geklettert bin, um die Sicherungen zu setzen, war noch alles in Ordnung.«
Aber war es das wirklich gewesen? Hatte Ana sich nicht schon die letzten Stunden seltsam verhalten?
David öffnete das unterste Fach seines Rucksacks und holte sein Erste-Hilfe-Set hervor, dann richtete er sich auf, zog seinen Gurt fest und trat an den Abgrund. »Ich klettere zurück. Sicherst du mich?«
»Oh Gott«, flüsterte Julia neben ihnen. »Ana! Ist sie abgestürzt?«
Katie zögerte einen Moment. Wenn Ana nicht mehr in der Lage war, diese Gruppe anzuführen, dann musste sie ihre Rolle übernehmen. Sie konnten sich nicht leisten, dass einer von ihnen hier oben durchdrehte.
»Ich gehe mit runter«, entschied sie.
Paul sicherte von oben und nur wenige
Weitere Kostenlose Bücher