Die Katastrophe
sie zum ersten Mal gesehen hatte. Als sie den Geräteraum der Turnhalle betreten hatte?
Sie dachte daran, was im Aufzug auf dem Weg dorthin passiert war und plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob es tatsächlich Realität gewesen war. Wenn eine Extremsportart wie Klettern im Körper einen Endorphinüberschuss verursachen konnte, wer sagte denn, dass das nicht auch Nebenwirkungen haben konnte? Realitätsverlust oder so etwas.
Andererseits – er hatte ihr gestanden, dass er ein Mörder war.
Dass er getötet hatte – für jemand anders.
Was hatte die Stimme im Fahrstuhl gedroht?
Dort oben wird jemand sterben. Verstehst du mich? Katie? Katie? Und es wird deine Schuld sein, Katie. Deine Schuld, Schuld...
Sie hörte sie wieder. Sie hörte die Stimme wieder.
Sie geriet ins Wanken.
»Pass auf.«
Pauls Stimme klang ganz ruhig, aber Katie biss sich auf die Lippen. Verdammt, sie war hier in über dreitausend Metern Höhe, rechts und links ging es Hunderte Meter in die Tiefe.
Konzentration aufs Wesentliche, Katie. Alle Gedanken ausschalten. Nur im Hier und Jetzt leben.
Mühsam riss sie sich zusammen und sah sich um. Tief unter ihr erstreckte sich jetzt der eisblaue Gletscher vor der Kulisse der umliegenden Gipfel. Am Fuß der Gletschersohle konnte sie einen dunklen Punkt ausmachen, die Hütte.
»Mann, hier geht es so was von runter«, hörte sie Benjamin von vorne rufen. »Das ist der Wahnsinn!«
Katie schüttelte den Kopf. Wie oft Ben schon etwas auf dieser Tour wahnsinnig gefunden hatte, konnte man gar nicht zählen.
Sie folgte Paul über den Schmalpass, vor dem Chris gewarnt hatte. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf den Gipfel, der nun direkt vor ihnen lag. Sie schätzte die Entfernung ab. Vielleicht noch...
Unglaublich! Vielleicht noch zwanzig Minuten, höchstens eine halbe Stunde, dann würde sie dort oben stehen!
Jetzt erst entdeckte sie, dass das, was vom Tal aus wie ein Gesicht aussah, tatsächlich Einkerbungen in der sonst spiegelglatten Wand waren, die von hier aus bis tief hinunter zum Sumpf abfiel. Das riesige Auge rund zweihundert Meter unter dem Gipfel war nun fast noch deutlicher zu erkennen. Aber ob es wirklich von ihren Vorfahren geschaffen war, wie Ana gesagt hatte? Katie bezweifelte das. Diese Wand schien ihr nur mit modernsten Hilfsmitteln bezwingbar. Vermutlich war es lediglich eine Laune der Natur.
»Sag mal, was tust du denn da?«
Katie schrak zusammen, als Davids Stimme von vorn erklang. Für seine Verhältnisse klang er richtig zornig.
»Was glaubst du wohl?«
Katie stöhnte. Das war ja klar! Benjamin kramte doch tatsächlich seine Kamera aus dem Rucksack!
Dieser Idiot!
»Hey, das hab ich mir verdient!«
Hilflos musste sie mit ansehen, wie Benjamin die Kamera umhängte, sich bückte und sich die Felswand nach links unten herabhangelte. Für einen Moment war sein Kopf verschwunden, bis er wieder auftauchte.
»Lass das!«, schrie Ana von vorn. »Oder willst du riskieren, dass du mich mit in die Tiefe reißt?«
»Ben, hör sofort auf damit.« Echte Panik schrillte in Julias Stimme mit.
Katie kam hinter Paul zum Stehen und sah jetzt erst, dass Benjamin auf einem schmalen Felsplateau gelandet war, das circa einen Meter unterhalb des Grates aus der glatt geschliffenen Wand des Ghost ragte. Ein gähnender Abgrund von mehreren Hundert Metern tat sich unter ihm auf.
Das Seil, das ihn mit Ana verband, war straff gezogen.
»Jeee, haaaaa!« Benjamin riss die Arme in die Höhe.
Das Echo kam zurück.
Jeee, haaaaa!
Benjamin lachte sich kaputt und dann begann er zu grölen: »Always look on the bright sight of life!«
»Bist du besoffen, oder was?«, stieß Chris wütend hervor.
»Nein, ich bin nur ein Liebling der Götter.« Benjamin breitete die Arme aus. »Ich bin Prometheus. An den Felsen geschmiedet.«
»Pudding bist du in wenigen Sekunden, wenn du nicht aufpasst«, erklärte Paul.
»Wenn ich abstürze, zieht ihr mich hoch!«
»Darauf würde ich nicht wetten«, knurrte Chris.
»Ich bin euer Freund, ich verlasse mich auf euch.«
Er griff nach seiner Kamera.
»Was macht dieser Mistkerl denn jetzt?«, stieß Paul hervor.
Doch jeder, der Benjamin kannte, und Katie kannte ihn inzwischen ziemlich gut, wusste, was er vorhatte.
»Lass es sein, Ben«, warnte Chris.
Benjamin schwankte leicht auf dem schmalen Plateau. Katie hörte Julia aufschreien, doch im nächsten Moment löste er die Kappe vom Objektiv.
»Beweise!«, rief er. »Uns wird es nicht so
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