Die Katastrophe
die alles entscheidende Frage, ihre schlimmste Befürchtung –, wenn das Seil hielt.
Das Seil hatte damals Sebastien das Leben gekostet, auch wenn sein Herz noch schlug. Aber er würde nie wieder aufwachen. Sebastien würde niemals aus dem Koma erwachen, er würde für immer so liegen und das war doch schlimmer als der Tod – oder?
»Katie? Wie weit bist du?«
»Fertig!«, brüllte sie zurück.
Und wenig später wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Nicht die Befürchtung, ob das Seil hielt, war das Schlimmste.
Das Schlimmste waren Anas Schmerzensschreie, als Paul und David zu ziehen begannen, das Mädchen sich langsam vom Boden löste und Stück für Stück nach oben gezogen wurde.
Katie blieb nicht allzu viel Zeit. Sie kroch an der Leiche vorbei, ohne noch einmal hinzusehen, und griff nach dem Rucksack aus grobem Stoff. Ein Relikt aus der Steinzeit des Bergsteigens, so erschien er ihr. Er hatte ein Wahnsinnsgewicht.
Katies Hände suchten den Reißverschluss. Er klemmte, als sie daran zog und zerrte, und dann riss der marode Stoff von selbst. Ohne nachzudenken, wühlten ihre Hände in dem Inhalt: Unterwäsche, eine Plastiktüte mit Zahnbürste und Zahnpasta, eine Feldflasche, Pullover, eine gestreifte Trainingshose mit einem Fußsteg – das war’s.
Ihre Hände fuhren in das oberste Fach und fühlten hartes Metall. Ein Taschenmesser, ein schmales Täschchen – sie zog den Reißverschluss auf – jede Menge Münzen und dann entdeckte sie den Brustbeutel. Es war haargenau der gleiche Brustbeutel wie der, den Benjamin im Sumpf gefunden hatte.
»Katie?«
Sie sah nach oben.
»Katie? Ana ist in Sicherheit! Sie hat es geschafft!«
Katie hörte die Worte, aber sie begriff nicht gleich. Die letzten Momente hatte sie Ana und die anderen fast vollständig ausgeblendet.
»Ich lasse das Seil wieder hinunter. Du bist an der Reihe.«
»Okay.«
Katie starrte durch den dunklen Spalt, der sie von der Welt dort oben trennte. Nicht mehr lange und die Dämmerung würde sich über den Gletscher legen. Sie mussten sich beeilen. Hastig steckte sie den Brustbeutel in die Innentasche ihrer Jacke.
Jetzt gab es nur noch eines, was sie tun musste. Sie kehrte zu der Stelle zurück, wo sie Ana angeseilt hatte, und griff nach der Rettungsdecke. Der Tote hatte hier dreißig Jahre lang gelegen und – keine Ruhe gefunden.
Vorsichtig breitete Katie die Folie über ihn.
»Ich finde heraus, was mit dir geschehen ist«, flüsterte Katie. »Ich werde mich darum kümmern – das verspreche ich dir.«
»Bist du bereit?«, hörte sie den Ruf von oben.
»Moment!«
Sie richtete sich auf, griff nach dem Seil und klinkte es in ihren Gurt ein.
Dann warf sie noch einen Blick auf die Grabstätte in der Eishöhle, wo plötzlich ein letzter Sonnenstrahl die silberne Folie traf und sie zum Leuchten brachte.
Dann schrie sie: »Worauf wartet ihr noch? Es kann losgehen!«
Im nächsten Augenblick schloss sie die Augen und betete, dass dieses Seil, an dem tief im Gletscher dreißig Jahre lang ein Toter gehangen hatte, noch ein zweites Mal hielt.
29
J ulia rannte.
Anas Schreie, als sie über die scharfe Eiskante gezogen worden war, gellten noch immer in ihren Ohren.
Julia rannte der untergehenden Sonne entgegen, ein feuerroter Ball, der nur noch wenige Zentimeter über dem Horizont schwebte.
So schnell sie konnte, rannte sie den Berg hoch in Richtung Hütte.
Katie hatte so gut wie keinen Ton gesprochen. Es war Julia fast so vorgekommen, als hätte sie unter Schock gestanden. Jede Frage, jede Berührung hatte sie abgewehrt, fast, als fürchte sie, die Nähe nicht aushalten zu können. Doch ihr Blick, als sie Julia sah und begriff, dass ihre Freundin umgekehrt war, hatte Julia genügt. Und spätestens in dieser Sekunde hatte sie ihre Entscheidung, sich von Chris und Benjamin zu trennen und allein über den Gletscher zurückzukehren, nicht länger bereut.
Benjamin, Chris und sie hatten etwa ein Drittel des Gletscherfeldes hinter sich gebracht, als Julia plötzlich abrupt stehen geblieben war.
»Was ist los?«, hatte Chris gefragt.
»Nein! Ich kann das nicht tun. Es geht nicht.«
»Was geht nicht?«
»Wir können die vier dort oben nicht einfach zurücklassen. Es ist nicht richtig.«
»Und was hast du vor?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hey, Leute, lasst uns weitergehen. Es ist doch sowieso zu spät, jetzt noch umzukehren«, hatte Benjamin gejammert. »Und wir können ihnen ja doch nicht helfen.«
Weder Julia noch Chris achteten auf
Weitere Kostenlose Bücher