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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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halb offen, die Augen waren nicht völlig geschlossen und es schien, als seien die Wimpern in der Luft gefroren.
    Die Farbe ihrer Haut war von einem besorgniserregenden bläulichen Weiß, als leide Ana unter Sauerstoffmangel. Oder lag es an dem grellen Licht der LED-Lampe, das von den hellgrauen Eiswänden reflektiert wurde?
    Die Panik drohte sie zu überwältigen. David hatte recht gehabt. Sie hatte keine Erfahrung mit Erster Hilfe. Sie war einfach nicht darauf gepolt, den Samariter zu spielen – auch wenn sie jetzt alles darum gegeben hätte, über Davids Wissen zu verfügen. Verzweifelt versuchte sie, sich an die Anweisungen zu erinnern, die David ihr eingebläut hatte, bevor sie sich abgeseilt hatte. Aber ihr fiel gleichzeitig nur ein, was sie alles falsch machen konnte.
    Wie bei Sebastien.
    Ein Fehler – und Ana...
    Nicht den Helm lösen.
    Die Verletzte nicht bewegen.
    Okay – was dann? Händchen halten war keine Lösung.
    Stabile Seitenlage? Aber Ana lag schon auf der Seite.
    Atmete sie überhaupt noch?
    Schlug ihr Herz? Vorsichtig zog Katie den Reißverschluss der Jacke nach unten und legte ihr Ohr auf Anas Brust.
    Das Rauschen der Angst in Katies Ohren war so laut, dass sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas hörte.
    Katie fiel etwas ein. Sie zog Ana den rechten Handschuh von den Fingern. Die Hand war noch immer geschwollen und gerötet von der Verletzung, die überhaupt die ganze Katastrophe ausgelöst hatte.
    Nein, Katie, du hast sie ausgelöst. Du und diese verrückte Idee, diesen Berg zu besteigen.
    Katie beugte ihr Gesicht über das von Ana, um abermals die Atmung zu überprüfen, als die Studentin plötzlich die Augen aufriss und sie anstarrte.
    Erschrocken fuhr Katie zurück und keuchend rief sie: »Ana! Du lebst. Hast du Schmerzen?«
    War das ein Nicken?
    Egal. Blöde Frage. Natürlich hatte sie Schmerzen, man sah es ihr an.
    Und dann fielen Katie plötzlich die weißen Stellen um Mund und Nase der Bergführerin auf. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Erfrierungssymptome. Die Haut wurde zuerst weiß und grau und irgendwann schwarz. Sie dachte wieder an die fehlenden Zehen an Anas Fuß und an den Satz, den sie vor zwei Tagen spöttisch gesagt hatte: »Heute ist ein guter Tag zum Sterben.«
    Wärme.
    Wo hatte sie nur ihren Kopf gehabt? Natürlich! Sie musste Anas Körper warm halten. Mit zitternden Fingern zog sie das Erste-Hilfe-Set aus der Jackentasche, während sie unablässig auf das Mädchen vor ihr einredete. »Heute ist ein Scheißtag zum Sterben. Hörst du, Ana? Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich dich hier rausschaffen soll, aber heute – das sage ich dir –, heute stirbst du nicht. Ich bin nicht so jemand wie David, der geradezu darauf wartet, Leben zu retten. Ich bin eine dickköpfige Person, die keine Verantwortung kennt. Weißt du, wer das zu mir gesagt hat? Mein eigener Vater. Ich hab ja keine Ahnung, wie das bei dir in der Familie läuft, aber meine Eltern haben sich ihr Kind aus dem gleichen Grund angeschafft wie ihr Auto. Etwas, was man haben muss. Etwas zum Angeben. Ein Prestigeobjekt.«
    Sie verstummte. Irgendwo musste hier doch eines dieser quadratischen Päckchen mit einer Rettungsdecke sein.
    Hier!
    Während Katie mit der rechten Hand versuchte, die Verpackung zu lösen, sprach sie unaufhörlich weiter: »Hör zu, ich schaffe dich nach oben zu den anderen. Paul wartet dort und David. Ich verspreche es dir, okay? Ich habe einmal versagt. Bei Sebastien. Er war mein Freund. Nein, er war der einzige Mensch, für den ich je mein Leben gegeben hätte. Der einzige und dann habe ich einen Fehler gemacht. Aber du musst mir vertrauen, Ana. Ich lasse dich nicht im Stich.«
    Je länger sie redete, desto ruhiger wurde sie. Erstaunlich, sie, die sonst so wenige Worte über die Lippen brachte, quatschte hier unten wie ein Weltmeister. Und dann endlich gelang es ihr, die Folie aus der Verpackung zu ziehen und sie über Ana auszubreiten.
    Der erste Schritt war gemacht.
    Und der zweite? Katie hatte keinen blassen Schimmer.
    »Katie! Katie!«
    Diese Stimme klang wie die aus dem Aufzug. Oder war es die Tiefe, die alle Nuancen verschluckte, sodass nur noch einzelne Buchstaben übrig blieben, bei denen Katie Mühe hatte, sie zu ihrem Namen zusammenzusetzen?
    Sie holte tief Luft, richtete sich auf, legte die Hände zu einem Trichter zusammen und brüllte. »Sie ist am Leben!«
    Am Leben, dachte sie.
    Sebastien – er war auch noch am Leben – aber nur in den Augen von Eve, seiner

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