Die Katastrophe
Gesicht von ihr abgewandt.
Ihr Blick glitt über die Gestalt. Sie konnte mehrere Lagen übereinandergetragener Kleidungsstücke identifizieren. Sie hingen an dem ausgemergelten Körper, als seien sie viel zu groß, wenn sie sich nicht schon überhaupt aufgelöst hatten und nur noch Fetzen erkennbar waren.
Der Körper war erstaunlich gut erhalten geblieben. Oder nein. Erstaunlich war das nicht. Es gab genug Leute, die nach ihrem Tod tiefgefroren werden wollten, um ihren Körper für die Ewigkeit zu bewahren. Katie hatte nie den Sinn darin gesehen. Warum die Hülle aufbewahren, wenn der Mensch doch längst gegangen war?
Der Lichtkegel der Stirnlampe streifte Haarbüschel, die unnatürlich von der Kopfhaut abstanden und so lang waren, dass sie über den Nacken hingen. Darunter blitzte die Haut hervor – wie Leder – nein, wie Pergament. Gefaltet, zerknittert und rau. Die Karikatur eines Gesichtes, in dem einmal Leben gesteckt hatte.
Katie streckte einem inneren Zwang folgend – oder vielleicht entsprang dieser Wunsch lediglich perverser Neugierde – die Hand aus, um den Nacken zu berühren, und zuckte im gleichen Moment zurück. Was, wenn die mumifizierte Haut zu Staub zerfiel, sobald die Hand eines Lebenden sie berührte?
Sie schüttelte den Kopf. Das hier war Realität – kein Fantasyroman oder Film. Und dennoch – sie wagte es nicht. Als existiere zwischen ihr und diesem Toten eine unsichtbare Grenze. Die Grenze zwischen Leben und Tod, in der Sebastien noch immer schwebte, weshalb Katie es nicht fertigbrachte, ihn weiter zu besuchen.
Wieder hörte sie Ana stöhnen und abermals kroch sie zurück, um die Verletzte zu beruhigen, aber sie schaffte es nicht, den Blick von der Leiche zu lösen. Sie registrierte jede Einzelheit und... dann sah sie es.
Ein Seil!
Es war um die Hüfte der Eismumie geschlungen – und wo war das verdammte Ende?
Plötzlich hatte Katie keine Probleme mehr, den Toten anzufassen. Ihre Finger griffen nach dem Seil und tasteten sich an ihm entlang. Okay, es war vorne am Bauch verknotet und... Oh Gott – sie konnte die Knochen unter der dünnen Hautschicht spüren – es fühlte sich an, als berühre sie ein Skelett.
Komm schon, Katie. Du kannst das!
Katie kroch zum Fußende des Leichnams.
Irgendwo musste es doch enden. Ja, hier war es. Es führte durch die Beine hindurch.
Katie zog mit aller Kraft und – zuckte panisch zurück, als die Leiche sich bewegte, nach vorne kippte und nun auf dem Bauch lag.
Für einen Moment stieg Übelkeit in ihr hoch und ihr schien, als atme sie den Hauch des Todes.
Abermals ein Stöhnen von Ana.
Hastig fuhr sie mit den Händen an dem Seil entlang und es kostete sie enorm viel Kraft, es aus der Schneedecke zu befreien.
Wie viele Meter waren es?
Genug jedenfalls.
»Katie?« Die Stimme von oben.
Jetzt musste sie nur noch den Knoten am Bauch der mumifizierten Leiche lösen.
Sie biss die Zähne zusammen und tastete sich vor.
Und dann sah sie etwas, das nicht möglich war. Es konnte nicht sein. Durfte nicht sein.
Der Schock ging durch ihren Körper, spaltete ihr Gehirn in zwei Hälften und schaltete einen Teil einfach ab.
Nimm dich zusammen, Katie, sagte sie sich. Konzentrier dich auf den Knoten! Nur das ist jetzt wichtig.
Katies vor Aufregung zitternde und von der Kälte eisige Finger versuchten, das Seil zu lösen, doch es gelang ihr nicht.
Sie brauchte ein Messer.
Etwas Scharfes.
Übelkeit stieg in ihr hoch. Nein, das konnte sie nicht tun. Das brachte sie einfach nicht fertig.
»Kalt. Mir ist so kalt«, hörte Katie Ana stöhnen.
Sie musste!
Sie beugte sich über den Toten, schloss die Augen und Sekunden lang verschwamm alles um sie herum.
Hätte Katie an Wunder geglaubt – wäre es ein Wunder gewesen. Vielleicht war allein Glück schon ein Wunder.
Jedenfalls schaffte sie es, das Stück Seil, an dem der Tote gehangen hatte, mit einem einzigen Schlag zu durchtrennen. Anschließend kletterte sie die fünf, sechs Meter nach oben, die sie von ihrem eigenen Seil trennte. Mit der linken Hand an dem Eispickel hängend, die sie mit aller Kraft in die Wand verhakt hatte, verknotete sie mit der rechten Hand die beiden Seile, und als sie wieder unten neben Ana landete, wusste sie, dass der Funken Hoffnung, der in ihr glomm, seit sie das Seil entdeckt hatte, immer stärker wurde.
Sie sicherte Ana, so gut es ging, schlang das Seil durch die Karabiner am Brust-und Sitzgurt. Nun konnten Paul und David Ana nach oben ziehen.
Wenn – und das war
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