Die Kathedrale des Meeres
Ausgaben. Irgendwoher muss das Geld kommen, das wir ihnen leihen – oder vielmehr unentgeltlich zur Verfügung stellen.«
»Könnt ihr euch nicht weigern?«
»Sie würden uns vertreiben … Oder, was noch schlimmer wäre, uns nicht mehr gegen die Christen verteidigen wie vor einigen Tagen. Wir würden alle sterben.« Diesmal nickte Arnau schweigend, während Raquel mit zufriedenen Blicken verfolgte, wie es ihrem Vater gelang, den Bastaix zu überzeugen. Arnau hatte selbst gesehen, wie die aufgebrachten Bürger Barcelonas nach dem Blut der Juden geschrien hatten. »Wir verleihen außerdem nur Geld an Christen, die Händler sind oder mit dem An- und Verkauf von Waren zu tun haben. Vor beinahe hundert Jahren hat König Jaime I. der Eroberer ein Gesetz erlassen, das jedes zwischen einem jüdischen Geldwechsler und einem Nichthändler getätigte Warengeschäft als nichtig und von den Juden gefälscht betrachtet, sodass man niemanden belangen kann, der kein Händler ist. Wir können mit jemandem, der nicht im Handel tätig ist, keine Warengeschäfte machen, da wir nie unser Geld zurückbekämen.«
»Und wo ist der Unterschied?«
»Da ist ein großer Unterschied, Arnau. Ihr Christen seid stolz darauf, die Vorschriften eurer Kirche zu erfüllen und keine Zinsen zu nehmen, und tatsächlich haltet ihr euch daran, zumindest auf den ersten Blick. Aber im Grunde tut ihr das Gleiche, nur nennt ihr es anders. Bis die Kirche die Zinsnahme unter Christen verbot, funktionierten die Geschäfte so wie heute zwischen Juden und Händlern: Es gab Christen mit viel Geld, die anderen Christen, Händlern, Geld liehen, und diese zahlten ihnen das Kapital mit Zinsen zurück.«
»Und was geschah, als man die Zinsnahme verbot?«
»Nun, ganz einfach. Wie immer habt ihr Christen die Vorgaben der Kirche umgangen. Es war einleuchtend, dass kein Christ einem anderen sein Geld leihen würde, ohne einen Nutzen davon zu haben. Da behielt er es lieber für sich und ging kein Risiko ein. Also habt ihr Christen ein Geschäft erfunden, das sich Warengeschäft nennt. Hast du schon einmal davon gehört?«
»Ja«, bestätigte Arnau. »Im Hafen ist viel von Warengeschäften die Rede, wenn ein Handelsschiff einläuft, aber ehrlich gesagt habe ich es nie verstanden.«
»Nun, es ist ganz einfach. Ein Warengeschäft ist nichts anderes als ein verstecktes Darlehen gegen Zinsen. Ein Geschäftsmann, ein Geldwechsler in der Regel, gibt einem Händler Geld, damit dieser Waren kauft oder verkauft. Wenn der Händler das Geschäft abgeschlossen hat, muss er dem Geldwechsler die gleiche Summe zurückgeben, die er erhalten hat, sowie einen Teil des erzielten Gewinns. Es ist nichts anderes als ein verzinster Kredit, nur unter anderem Namen. Der Christ, der das Geld zur Verfügung stellt, vermehrt sein Geld, und das ist es, was die Kirche verbietet: die Vermehrung von Geld, ohne dafür zu arbeiten. Die Christen machen nichts anderes als vor hundert Jahren, bevor die Zinsen verboten wurden, nur nennen sie es heute anders. Wenn wir Geld für ein Geschäft geben, sind wir Wucherer. Nicht so jedoch der Christ, der das Gleiche mittels eines Warengeschäfts tut.«
»Gibt es keinen Unterschied?«
»Nur einen: Bei einem Warengeschäft trägt der Geldgeber das Risiko des Geschäfts mit. Wenn also der Händler nicht zurückkommt oder die Ware verliert, etwa weil er auf der Überfahrt von Piraten überfallen wird, ist das Geld verloren. Bei einem Darlehen würde das nicht passieren, denn bei diesem wäre der Händler weiterhin verpflichtet, das Geld samt Zinsen zurückzuzahlen. In der Praxis allerdings ist es dasselbe, denn ein Händler, der seine Ware verloren hat, zahlt seine Schulden nicht. Letztendlich müssen wir Juden uns an die gängigen Handelspraktiken anpassen: Die Händler wollen Warengeschäfte, bei denen sie nicht das Risiko tragen, und wir müssen darauf eingehen, denn andernfalls hätten wir keine Einkünfte, um die Forderungen eurer Könige zu erfüllen. Hast du es nun verstanden?«
»Wir Christen dürfen keine Zinsen nehmen, aber durch die Warengeschäfte ist das Ergebnis dasselbe«, sagte Arnau.
»Genau. Was eure Kirche verbieten will, sind nicht die Zinsen an sich, sondern das Erzielen von Gewinn durch Geldbesitz statt durch Arbeit. Das gilt nicht für Darlehen an Könige, Adlige oder Ritter, denn diesen darf ein Christ sehr wohl Geld gegen Zinsen leihen. Die Kirche geht davon aus, dass solche Darlehen der Kriegführung dienen, und hält folglich einen
Weitere Kostenlose Bücher