Die Keltennadel
zusammen mit mehreren anderen lag. Ach was, schaden konnte es nicht.
Sie hielt den Briefbeschwerer gegen das Fenster, um das Licht einzufangen. Das Gewirr von Farben und winzigen Bläschen darin war wie ein Miniaturkosmos, in dem sich ferne Sonnen aus galaktischen Gas und Staubwolken bildeten. Sie drehte den Briefbeschwerer in der Hand – eine Göttin, die die Erschaffung des Universums beobachtet. Er war ein Geburtstagsgeschenk von Hazel, aber für Jane würde er immer mit einem anderen Ereignis in jenem besonderen Jahr verknüpft bleiben.
Der Komet Hale-Bopp hatte damals seit zwei Wochen am Nachthimmel gefunkelt, als Jane eines Tages nach Hause gekommen war und ihre Schwester in heller Aufregung antraf, weil sie etwas im Internet entdeckt hatte. Hazel surfte in letzter Zeit ziemlich oft darin; wie so häufig damals wusste sie nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte. Mit ihren zweiundzwanzig hatte sie ein Jahr zuvor einen Abschluss in Wirtschaft gemacht, woran sie jedoch kein Interesse mehr zu haben schien. Jane, die ein Jahr älter war, hatte gerade ihr Diplom in Kommunikationswissenschaft erworben. Schon seit ihrem zweiten Studienjahr hatte sie für die Zeitschrift Hot Press auf freiberuflicher Basis Bands besprochen und Musiker interviewt, und nun war sie Reporterin bei RTE, dem nationalen Radiosender. Die beiden Schwestern hatten sich im Vorort Ryevale ein Haus gekauft; das Geld für die Anzahlung stammte aus dem Nachlass ihres Vaters, der in London an Krebs gestorben war, nachdem er schon lange von ihrer Mutter getrennt gelebt hatte.
An jenem Abend war Jane im nahe gelegenen Maynooth College bei ihrem Italienischkurs gewesen, zu dem sie Hazel vergeblich zu überreden versucht hatte. Anschließend war sie weitere zwanzig Meilen gefahren, um ihre Mutter in der Grafschaft Meath zu besuchen, wo diese eine zunehmend exzentrische Existenz mit einem Antiquitätenhändler führte, der mehr Objekte zu kaufen als zu verkaufen schien. Als sie kurz vor Mitternacht wieder in Ryevale aus ihrem verbeulten Ford Fiesta stieg, blieb sie vor dem Haus stehen und sah zu dem Kometen am klaren Himmel über Dublin empor. Er strahlte hier viel weniger hell, als wenn man ihn von der Wiese hinter dem Haus ihrer Mutter betrachtete, aber er war immer noch beeindruckend.
»Buonanotte«, flüsterte sie ihm in ihrer neuen Sprache zu. Es kam ihr passend vor. Sie übte die beiden letzten Silben mit der Zungenspitze an der Innenseite der Schneidezähne, als die Tür aufging und Hazel aus dem Haus stürzte.
»Du glaubst nicht, was ich gerade im Net gefunden habe – komm schnell rein.«
Auf dem Bildschirm war eine Website zu sehen. Heaven ‘s Gate .
»Schau dir das mal an«, sagte Hazel aufgeregt. »Es geht um eine Organisation in Kalifornien, die sich Higher Source nennt, und sie glauben, der Komet ist ein Zeichen, dass sie die Welt verlassen sollen.«
DIES IST DAS ZEICHEN, AUF DAS WIR GEWARTET HABEN. DIE ANKUNFT DES RAUMSCHIFFS AUF DER EBENE ÜBER DER MENSCHLICHEN STEHT BEVOR. SIE WERDEN UNS MIT IN IHRE WELT NEHMEN… WIR GEHEN MIT FREUDEN…
»Sie sind fest überzeugt, dass sich hinter dem Komet ein Raumschiff verbirgt – was sagst du dazu?« In Hazels Stimme schwang nicht eine Spur Skepsis mit.
»Verrückt… aber so sind sie halt in Kalifornien«, spielte Jane das Thema herunter. »Da finde ich ja die Theorie deiner Mutter noch überzeugender – sie hat mir gerade erzählt, dass es ein herabfallender Stern ist… dass die Astronomen sich und uns jahrelang mit dem Geschwätz über Lichtjahre und unglaubliche Entfernungen nur zum Narren gehalten haben. In Wirklichkeit sind die Sterne nur ein paar Meilen entfernt!«
»Und die Erde ist eine Scheibe, oder?«
Sie lachten beide. Aber Hazel blieb in dieser Nacht noch lange auf und durchstreifte das Internet.
Am nächsten Tag erfuhren sie von den neununddreißig Menschen, die ihrem Leben in San Diego in aller Ruhe ein Ende gesetzt hatten; sie hatten ihre Gesichter mit einem purpurnen Tuch bedeckt, alle trugen neue schwarze Laufschuhe und eine kleine Tasche mit Habseligkeiten für die Reise. Und damals begann auch Hazels Reise ins Ungewisse.
9
I m Polizeirevier von Lucan saßen Dempsey und Taaffe jeweils am Ende eines langen Tisches, auf dem Schriftstücke, Fotos und Beutel mit Beweismaterial ausgebreitet lagen. Ein Dutzend kreuz und quer stehender Stühle und der Mief von Zigaretten und menschlichen Ausdünstungen zeugten davon, dass sich bis vor kurzem noch sehr viel mehr
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