Die Ketzerbibel
hübschesten Mädchen in der Stadt und alle Orte, wo man Spaß haben kann, ohne dass einem die Büttel auf die Nerven gehen», sagte er listig, «Mädchen, Wein, Spiel, oder wollt ihr zuerst in die Thermen? Dort könnt ihr alles auf einmal finden. Nur die Mädchen sind etwas gewöhnlich.» Carolus schaute ihn erstaunt an. Der Kleine hatte noch nicht mal Haare am Kinn und hörte sich schon so abgebrüht an!
«Danke, nein», wehrte er ab, «nichts dergleichen. Ich möchte, dass du mich zu allen Hospitälern führst, wo man Arme schlafen lässt und verköstigt. Ich suche jemanden.»
«Eine Frau?» Der Junge ärgerte sich. Hatte er sich etwa getäuscht? Von der richtigen Einschätzung der Kundschaft hing sein Verdienst ab. «Eure Frau? Ist sie Euch weggelaufen?»
«Nein, nicht meine Frau. Ich bin unverheiratet», erklärte Carolus.
Der Junge war zufrieden. Hatte er doch recht gehabt.
Carolus beschrieb sie ihm. «Sie ist erst seit ein paar Tagen hier. Vielleicht bettelt sie.»
Ein Denier pro Tag, das war kein fetter Verdienst. Diebstahl war lohnender, aber so war es sicherer. Und wer wusste das schon, vielleicht würde er bald genug haben von seiner Suche und sich doch im Badehaus erquicken wollen. Dann wäre noch eine Kommission zu holen. Der Junge war gewieft und entschlossen, seinen Kunden möglichst lange am Haken zu halten. Auf verschlungenen Wegen führte er Carolus durch die Gassen, bis er ganz die Orientierung verlor.
Die Schönheit und die Pracht nahm er nicht wahr, nicht die hohen Giebel, die vielen Brunnen, die auf jedem Platz die Luft erfrischten, nicht die Wasserspeier, die Steinmetzarbeiten, die Bögen und Türme, den neuen Getreidespeicher, die Thermen. Die Basilika Saint Sauveur mit ihren Mysterien und Spolien ließ er links liegen. Nach unten war sein Blick gerichtet, dorthin, wo die Bettler saßen und den Vorübergehenden ihre Schalen entgegenhielten.
Er hockte sich zu ihnen hin und verhandelte, während der Bengel gelangweilt danebenstand. Was vertrödelte der Narr seine Zeit mit Krüppeln und Aussätzigen, da doch Aix jede erdenkliche Vergnügung und jeden Luxus bot? Und dieser Mann war nicht einmal ein Mönch!
«Hast du eine dunkelhaarige Frau gesehen, eine Bettlerin in Nonnengewändern?», fragte Carolus einen Einbeinigen. «Dunkle, kurze Locken, Narben hier und da, ungefähr so groß?»
Der Bettler machte eine reibende Geste mit Daumen und Zeigefinger.
«Was zahlste denn, wenn ich sie gesehen habe?», fragte er.
«Ich gebe dir ein Kupferstück für eine ehrliche Antwort», erwiderte Carolus.
«Erst das Geld!», feilschte der alte Krüppel.
Er gab es ihm.
«Hab keine gesehen, so eine wie du sagst. Aber meine Schwester, die ist auch nicht zu verachten! Ist noch Jungfrau. Hat auch braune Haare und solche Augen!»
«Von wegen! Die kenn ich: Dem seine Schwester ist jedes Mal von neuem Jungfrau!» Der Junge spuckte aus und zog Carolus weiter. Sie klopften an die Klostertore, fragten in den Hospitälern und sahen in den Gossen nach, in den ärmsten Vierteln, unter den Brücken.
Jeden Abend fragte die schwarzhaarige Louisa ihn, ob er sein Mädchen gefunden hätte.
«Nein, wieder nichts», musste er jedes Mal antworten. Mitleidig brachte sie ihm noch einen Krug von dem grässlichen Wein und schob ihm eine Leckerei zu, einen kleinen Kuchen oder ein paar Mandeln.
«Ach, was ist das traurig! Wie dumm ist nur diese Frau, so einem netten Mann davonzulaufen! So einen wie ihn findet man nicht jeden Tag», sagte sie zu der anderen Serviererin, während sie die Töpfe mit Sand auswischte.
«Ich hätte nicht übel Lust, auch mal ein paar Tage zu verschwinden, um zu sehen, was meiner dann unternimmt.»
«Probier das lieber nicht aus. Nachher kommst du wieder, und er hat eine Neue», entgegnete die andere.
Am dritten Tag seiner Suche schließlich bat Carolus den Jungen, ihn zum Gefängnis zu bringen. Der Wachhabende steckte einen Sou ein, um ihn zum Kerkermeister zu bringen, der ein Stück Silber verlangte, um ihn durch den Frauentrakt zu führen.
«Wir kriegen jeden Tag ein Dutzend neue Weiber herein. Wie sie aussehen, ist mir gleich. Nach ein paar Tagen hier unten sind sie ohnehin alle dürr und grau und kriegen die Krätze.»
In einem langen feuchten Gang lagen vier Zellen nebeneinander, vergitterte, fensterlose Höhlen, aus denen ein unglaublicher Gestank drang. Leuchtete man mit der Fackel hinein, sah man Gestalten, die auf fauligem Stroh lagen, einzeln oder beieinander. Die Jüngeren kamen
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