Die Ketzerbibel
erlaubte sie sich ein zufriedenes, kleines Lächeln.
Sie sah nicht, dass Juliana ebenfalls lächelte.
«Soso, sie meint also, sie könne mich für ihre Zwecke einspannen», sagte Juliana zu Anne. «Aber es mag tatsächlichein guter Einfall sein. Weißt du, woran mich unsere Danielle oft erinnert?»
«Nun?»
«An eine Schmetterlingspuppe.»
«Weil sie so zurückhaltend ist?»
«Mehr noch. Sie kommt mir so vor, als schliefe sie halb. Schliefe in einem Kokon, der sie vor der Außenwelt schützt. Als sei da etwas verschlossen, das doch einmal hinausmuss.»
«Muss es denn? Sie hat sich doch gut eingelebt. Sie ist sehr anstellig und hilfsbereit – und auch fromm.»
«Ja, das ist alles wahr. Aber sie ist nicht recht sie selbst. Davon bin ich überzeugt.»
«Vielleicht wäre es wirklich besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.»
«Vielleicht bin ich nur eine neugierige alte Frau, die sich übermäßig in das Leben anderer einmischt. Aber ich möchte doch zu gern diesen Schmetterling noch einmal fliegen sehen.»
«Und was, wenn es gar kein Schmetterling ist, nichts Schönes und Gutes, sondern wenn etwas Schlimmes ans Licht kommt? Was, wenn sie doch eine Verbrecherin ist?»
Die Meisterin öffnete die Tür zum Scriptorium und drehte sich dabei zu Anne um.
«Was sagt dir dein Gefühl?»
«Ich glaube es nicht. Aber Gefühle können täuschen.»
«Wohl wahr. Und das ist ein Grund mehr, die Sache nicht so einfach auf sich beruhen zu lassen: Wenn sich doch herausstellte, dass unsere Danielle etwas Unverzeihliches getan hat, dann könnte sie uns allen hier gefährlich werden. Man würde es dann nur zu gern gegen uns verwenden.»
Es war aber nicht so leicht, Danielle zu überreden, wie Magdalène es sich vorgestellt hatte. Ein hübsches Männergesicht,eine sanfte Stimme – und schon würde sie ihr Herz ausschütten, hatte sie gedacht. Nein. Danielle weigerte sich rundheraus, mit Carolus zu reden.
«Was soll denn dabei herauskommen? Ich werde mich schon erinnern, wenn es an der Zeit ist. Und wenn nicht, dann eben nicht. Und im Übrigen muss ich mich schon sehr wundern, dass mir ausgerechnet hier zugemutet wird, mit einem Mann vertraulich zu werden!», hatte sich Danielle empört. Doch auf Drängen der Meisterin hatte sie schließlich nachgegeben.
Der gute Medicus dagegen war von dem Fall fasziniert gewesen und hatte sofort eingewilligt, sich eingehend damit zu beschäftigen.
«Ich habe schon öfter davon gelesen, wie Menschen durch einen großen Schrecken oder einen Schlag auf den Kopf das Gedächtnis verlieren. Aber ehrlich gesagt, getroffen habe ich nur Lügner, die hinter einem angeblichen Gedächtnisschwund irgendwelche Missetaten zu verbergen trachten.»
«Dass sie uns böswillig hinters Licht führt, das glaube ich nicht. Es bleibt allerdings die Frage, ob sie sich nicht erinnern kann oder sich nur nicht erinnern will.»
«Was auf dasselbe hinauslaufen kann!»
«Überdies erscheint sie mir ständig ein wenig gedämpft und traurig.»
«‹Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Traurigkeit am meisten Schaden für den Leib›, sagt Thomas von Aquin. Ich hege den Verdacht, dass manche Krankheit auf solche Art zustande kommt. Doch in welchem Zusammenhang steht ihre Traurigkeit und dass sie sich nicht erinnern kann? Handelt es sich um eine Krankheit des Körpers oder der Seele? Ein interessantes Problem.»
«Es ist nur leider so, dass unsere Schwester im Augenblickgar nicht geheilt werden will, sondern sich vielmehr ganz gesund wähnt.»
«Das ist oft so», entgegnete Carolus. «Wenn Ihr erlaubt, will ich gleich selbst mit ihr sprechen. Ich werde sie nicht bedrängen und will sie ganz gewiss nicht quälen. Ich darf mich ihr also nähern?»
«Das wird wohl notwendig sein, um mit ihr zu sprechen! Aber nur in den Grenzen des Anstands, junger Mann. Vergesst das niemals!»
«Was denkt Ihr von mir?», empörte sich Carolus.
«Fort mit Euch! Versucht Euer Glück», scheuchte ihn Juliana hinaus. Carolus trat auf den Hof und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Danielle hatte eine Hose unter einen alten, vielfach geflickten Rock angezogen, wie eine Bäuerin. Die kurzen Haare waren unter ein altes Tuch gebunden. Sie kniete im Garten und wühlte mit beiden Händen tief in der schwarzen Erde. Ein Teil des Heilgartens war bereits umgegraben und mit Stöcken und Stricken in Abschnitte eingeteilt. Sie hörte die Schritte des Doktors auf dem Kopfsteinpflaster und schaute sich um. Die Sonne stand hinter ihm
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