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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klee
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Der hat das Herz am rechten Fleck.»
    «Richtig! Ich danke dir.» Er fühlte sich plötzlich so erleichtert, fast hätte er die alte Begine geküsst.
    Carolus suchte den Franziskanermönch in seinem Kloster auf, im ärmsten Viertel der Stadt, nahe der Porte du Chien, dem Hundetor.
    «In der Tat: Eine verzwickte Frage. Da würde ich gerneden Infirmarius und unseren Bibliothekar hinzuziehen», sagte Calixtus nachdenklich, als er Carolus im Besucherraum empfing. Er eilte davon, seine Brüder zu holen. Der Medicus schaute sich um: Der Besucherraum gleich neben der Pforte, vom Klaustrum streng abgeteilt, war eine schlichte Zelle mit weißgekalkten Wänden. Ein Tisch stand darin und vier Schemel. An der Wand gegenüber dem hohen, winzigen Fenster hing ein geschnitztes und bemaltes Halbrelief von einem Mönch in brauner Kutte, der einem Wolf gegenüberstand.
    Während er wartete, kam ein sehr junger Mönch herein, ein Kind noch mit rosigen haarlosen Wangen, und brachte einen Becher verwässerten Weins und ein kleines, mit Oliven gefülltes Brot. Schweigend stellte er die Gaben vor dem Gast auf die saubergeschrubbte Tischplatte aus Pinienholz und verschwand wieder.
    Nach einiger Zeit hörte Carolus Stimmen auf dem Gang. Die Tür ging wieder auf, und Calixtus kam herein, gefolgt von zwei weiteren Mönchen. Er stellte sie ihm vor.
    «Dies ist Basilio, unser Infirmarius.»
    Der kam ohne Umschweife zum Thema: «Ich habe zwar noch nie mit Geisteskrankheiten zu tun gehabt, denn meine Brüder neigen eher dazu, sich bei der Feldarbeit in den Fuß zu hacken oder sich beim Knien in der kalten, feuchten Luft einen Schnupfen zu holen. Aber vielleicht fällt mir doch etwas Nützliches ein», sagte er, ein kräftiger, stämmiger Mann von etwa dreißig Jahren. Calixtus stellte den zweiten Mann vor: «Und das ist Athanasius, unser Bibliothekar.» Das war unschwer zu erkennen, da der so Bezeichnete etliche Pergamentrollen und Codices bei sich trug, die er auf dem Tisch verteilte. Athanasius’ Körper wirkte weich und blass, wie der eines Menschen, der selten das Sonnenlicht sieht.
    Carolus nickte beiden freundlich zu.
    «Offenbar hat Calixtus euch schon ungefähr gesagt, um was für eine Art von Patientin es sich handelt. Als geisteskrank würde ich sie übrigens nicht bezeichnen, da sie ansonsten von klarem Verstand und normalem Verhalten ist. Sie lacht – wenn auch selten   –, sie weint, sie spricht, sie arbeitet und betet. Sie scheint sogar die Fähigkeit zur Zuneigung und Verantwortungsgefühl zu besitzen, was man von Wahnsinnigen eher nicht sagen kann. Ich frage mich Folgendes», hier unterbrach sich Carolus und versuchte, seine Gedanken zu ordnen: «Ist sie überhaupt krank? Wenn ja, welcher Natur ist ihre Krankheit? Wo sitzt sie, in welchem Organ? Kann man sie behandeln? Soll man sie überhaupt behandeln?»
    «Halt! Halt!», rief Athanasius. «Nicht so rasch. Die letzte Frage kann ich dir sofort beantworten: Da die Erinnerung vonnöten ist, um Sünden zu bereuen, ist es schon zum Wohle der unsterblichen Seele dringend erforderlich, diese wiederzuerlangen!»
    «Also betrachten wir sie als krank und müssen sie behandeln. Welcher Natur ist aber ihre Krankheit? Welcher Teil ihres Körpers ist betroffen? Wo sitzt die Erinnerung?»
    Der Bibliothekar suchte in den Dokumenten, die er mitgebracht hatte. Er zog schließlich eines hervor und legte einen dicken Zeigefinger mit sehr kurz geschnittenem Fingernagel auf die betreffende Stelle: «Platon beschrieb
epithymetikon
, die Triebseele, sie steuert die elementaren Bedürfnisse wie Schlaf und Nahrungsaufnahme, aber damit hat sie ja keine Schwierigkeiten, wie du sagst. Sodann:
thymoeides
, die Affektseele, zuständig für die Gefühle: Angst, Zuneigung, Wut und dergleichen. Auch dieser Teil der Seele scheint bei ihr funktionsfähig zu sein, wie ihr erwähnt habt. Es bleibt also das
logistikon
, die Vernunftseele, der das Denken, die Erkenntnis und das Gedächtnis unterliegt. Und da, wenn ihr mich fragt, sitzt das Problem! Und das ist umsoschlimmer, als doch einige unserer Lehrer behaupten, dass nur die Vernunftseele unsterblich ist. Wie könnte also ein Mensch kränker sein als sie?» Er hob seine Hand in einer seltsam graziösen Gebärde, der Ellbogen leicht abgespreizt, die Hand mit dem gestreckten Zeigefinger halb geöffnet, als hätte er die Geste von einer Statue abgeschaut: «Wahrlich, ein schwerer Fall, Brüder! Eine fürchterliche Krankheit!»
    «Und wo sitzt diese Vernunftseele,

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