Die Ketzerbibel
Fleisches staken.
«Später!», rief Magdalène. «Wir wollen erst das Johannis-Feuer sehen!»
Sie drängten sich durch die Straßen und wurden mehrmals aufgehalten. Danielle fühlte sich von hinten gepackt und spürte einen heißen Atem an ihrem Hals. Jähe Angst stieg in ihr auf. Ohne nachzudenken stieß sie mit dem Ellbogen zu. Ein Schmerzensschrei zeigte, dass sie allzu gut getroffen hatte. «Au! Wildkatze! Sei doch nicht so grob. Man wird doch noch sein Glück versuchen dürfen?»
Sie riss sich los. Atemlos rannte sie Magdalène hinterher. Gerade rechtzeitig langten sie auf der Place Saint Nicolas an, um zu sehen, wie Abbé Grégoire eine Fackel an die Reisigbündel hielt. Der Scheiterhaufen war übermannshoch, aus Wacholder und gutabgelagertem Obstbaumholz sorgsam aufgebaut. Er fing sofort Feuer. Flammen züngelten an den Scheiten entlang, fraßen sich hinein, nahmen sie in Besitz. Rauch stieg geradewegs zum Nachthimmel. Ein zufriedenes Aufseufzen ging durch die Menge.
Abbé Grégoires Blick glitt über die Zuschauer. Danielle drückte sich in einen Hausschatten. Doch der Priester schien die beiden Beginen nicht zu erkennen.
«Komm», flüsterte Magdalène. «Lass uns auf die Mauer steigen. Ich kenne einige Männer von der Stadtwache, die lassen uns hinauf und verraten uns nicht.»
Danielle mochte nicht darüber nachdenken, auf welche Weise die ehemalige Hure diese Soldaten kennengelernt hatte. Doch was immer früher vorgefallen war: Sie benahmen sich gesittet und forderten keine Gefälligkeiten.
«Guten Abend, Magdalène! Na, wieder mal ausgerückt?» Und: «Grüß dich, du Hübsche. Ach, es ist ein Jammer, dass du unter die Betschwestern gegangen bist!», sagten sie freundlich.
Sie ließen die beiden Beginen in den Wachturm am Schloss, von dem aus sie die beste Sicht ins Tal der Durance haben würden.
«Sie haben nicht einmal versucht, einen Kuss zu stehlen», wunderte sich Danielle halblaut, als die beiden die enge Holztreppe hochstiegen. Ihre Schritte klangen hell und hohl und hallten wider von den Wänden.
«Warum auch? Sie haben akzeptiert, dass ich meine Wahl getroffen habe», erwiderte Magdalène.
«Hm!» Danielle ließ einen Laut des Zweifels hören.
«Ach, warum denkst du nur immer, alle Männer seien schlecht und nur ihren Trieben unterworfen?», fragte ihre Freundin.
Eine Grotte, eine Katakombe, ein Gewölbe unter der Stadt. Die Flammen beleuchten ein Gesicht aus der Vorhölle: Narbig, brutal, die Ohrmuscheln fehlen. «Glaubst du, meinen Schutz kriegst du umsonst?»
Danielle antwortete nicht. Sie waren oben angekommen und betraten die Plattform. Die Luft war cremig und süß wie Butter. Ein goldener Schein erleuchtete den Horizont und würde die ganze Nacht lang nicht vergehen: Es war der längste Tag des Jahres. Rund umher im Land, vom Mont Aventure, über die Durance bis hin zum Rand der Welt, wo die Alpilles im gelben Dunst verschwammen, sprangen nach und nach kleine Feuer auf. Jeder Ort, jedes Dorf, jede einsame Schäferei und jedes
mas,
die selbstgenügsamen Bauernhöfe in den Hügeln, hatte sein eigenes Johannisfeuer, in dem die Sünden des vergangenen Jahres verbrannten und das die Wünsche mit seinem Rauch in den Himmel trug.Tausend kleine Feuer, tausend mal tausend Feuer – sie verwandelten die weite Ebene in einen irdischen Sternenhimmel.
«Da unten sammeln sie jetzt Johanniskräuter, als ob sie im Dunklen etwas rechtes erkennen könnten! Und morgen müssen die Großmütter das alles auseinandersortieren, was sie da zusammengerupft haben», lachte Magdalène. «Und manches Kind wird heute Nacht gemacht.»
Sie lehnten sich über die Brüstung und schauten, hinter ihnen die Musik und die Stimmen der Stadt, vor ihnen zirpten die Grillen ihren Schattengesang.
«Um nichts in der Welt möchte ich diesen Anblick missen», sagte Magdalène.
In der Stadt war die Stimmung inzwischen ausgelassen. Die hohen Herren samt dem Priester von Saint Nicolas speisten zweifellos im Schloss. Der Scheiterhaufen brannte lichterloh, und die Menge jauchzte jedes Mal, wenn es darin knallte und die Funken stoben. Auf dem Vorplatz der Kirche und in den Straßen wurde getanzt zu
galoubet
, Flöte und Tambourin. Die Umstehenden klatschten im Takt und ermunterten die Tänzer zu immer wilderen Figuren. Aus den Wirtshäusern klangen die Stimmen jetzt lauter und das Gelächter greller als zuvor. Weiber kreischten in der Rue Galante. Die erste Schlägerei brach aus.
Die Beginen rafften ihre langen Röcke
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